Alma, Mareike & Oma Karina: Über die Bindung zwischen den Frauen, die uns zu Tochter und Mutter machen
Alma, Mareike & Oma Karina
Über die Bindung zwischen den Frauen, die uns zu Tochter und Mutter machen
Ich bin eine Beobachterin der Beziehung zwischen Oma und Enkelin, ich bin die Frau dazwischen. Das Bindeglied als Tochter und Mutter, im ganz eigentlichen Sinne mittendrin. Mitten in der Familienlinie, der Lebenslinie, ein Bindeglied zwischen den Generationen. Die Mittelgeneration. Diejenige, die die eine zur Tochter und die andere zur Oma gemacht hat. Und mich hat die eine zur Tochter und die andere zur Mutter gemacht. Und doch: Die Beziehung zwischen Oma und Enkelin ist losgelöst, eigenständig. Ein eigener Organismus, der lebt und atmet. Ich kann die Beziehung unterstützen und vielleicht ermöglichen. Leben und fühlen kann ich sie nicht. Ich bin mittendrin und gleichzeitig außen vor. Der Oma-Enkelin-Organismus entwickelt kleine Geheimnisse und eigene Codes basierend auf gemeinsamen Erlebnissen, die ich erzählt bekomme. Das eigentliche Erleben findet nun ohne mich statt. Ich selber habe eine solche Beziehung nicht erlebt und nicht gefühlt. Die eine Oma verstarb zu früh, die andere war nicht greifbar. Vielleicht hinterlässt die fehlende Bindung zu meinen Omas eine Lücke, von der ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Bis eine solche Beziehung direkt vor meiner Nase entstand. Die Liebe zwischen meiner Tochter und meiner Mama ist eine geschenkte, eine grundsätzliche Liebe. Eine Liebe ohne Mühe, Verpflichtungen, eine große Liebe der uneingeschränkten Akzeptanz. Nicht ohne Streit und Schwierigkeiten, aber mit mir mittendrin als Konfliktpuffer.
Ich liebe und bewundere meine Mutter – auch weil sie meine Mutter ist. Manchmal war das mit der Bewunderung und der Liebe aber nicht so leicht – eben auch weil sie meine Mutter ist. Und ich glaube, umgekehrt verhält es sich genauso. Die Oma-Liebe für meine Tochter baut auf der Tochter-Liebe meiner Mutter auf. Die Enkelin wird für sich selbst geliebt und bekommt die Liebe zur mir noch obendrauf. Gratis dazu, Handgepäck, ohne Aufpreis. Es ist eine Liebes-Verdoppelung. Eine Kindeskind- Liebe. Ich liebe die Oma, die meine Mutter geworden ist und ich liebe und bewundere meine Tochter. Diese kluge, starke, streitbare, hochsensible Person. Nachtragend, unruhig, loyal, empfindsam. Von allem viel: Emotionen, Willen, Kopf, Präsenz, Gedanken und Haare. Und meine Mutter? Eine kluge, starke, streitbare, hochsensible Person. Nachtragend, unruhig, loyal, empfindsam. Im Älterwerden von allem etwas weniger als meine Tochter. Eine Oma und ein junges Mädchen. Unterschiedlich und gleich zugleich.
Die beiden sollen hier nun zu Wort kommen:
Alma: „Oma, auf was bist du in deinem Leben richtig stolz?
Oma Karina: „Richtig stolz bin ich auf meine beiden Kinder, weil beide großartige Erwachsene geworden sind. Ich bin und war aber auch immer stolz auf meinen Beruf: die Ausbildung von jungen Bauarbeiter*innen und Bauzeichner*innen. Ich konnte den jungen Menschen neben Fachinhalten auch sehr viel Persönliches vermitteln. Das ist mir gut gelungen. Und auf was bist du stolz, Alma?“
Alma: „Ich bin stolz, dass ich so gut zeichnen kann und es mir selbst beigebracht habe. Das ist aber eine Frage, die Omas besser beantworten können, glaube ich. Ich bin auf kurze Sachen stolz, du auf lange wie deine Arbeit. Das ist ein großer Unterschied zwischen jungen und alten Leuten, glaube ich. Oma, was hat deine Generation, also alte Omas und Opas, was meine nicht hat?“
Oma Karina: „Meine Generation hat noch Entbehrungen nach dem Krieg erlebt. Ganz viele materielle Wünsche wurden mir nie erfüllt: kein eigenes Fahrrad, kein Instrument, kein Tennis und ganz wenig neue Kleidung. Dafür hatten wir viele Freiheiten. Wir wohnten bei meinen Großeltern mit im Haus und hatten einen großen Obstgarten. Wir wurden einfach morgens aus dem Haus gelassen und dann zu den Mahlzeiten gerufen. So habe ich bereits mit drei Jahren meine Freundin Uschi kennengelernt, die auch allein rausdurfte. Es war damals ungefährlich, weil es nur zwei Autos in unserer Straße gab, auf der viele Kinder gespielt haben. Wir konnten uns jeden Tag ausdenken, was wir spielen wollten. Klingt das gut für dich?“
Alma: „So viel Freiheit hätte ich auch gerne. Wir haben dafür modernere Sachen: Handys und Laptops. Oma, du hattest bestimmt keinen Beamer in der Schule, oder? In meiner Schule gibt es jetzt einen in jeder Klasse. Ich finde, meine Generation hat viel Stress. Alle haben immer Termine und Hobbys. Manchmal ist das richtig schwer, sich zu verabreden, weil so wenig Zeit bleibt zwischen Schule, Training, Kursen. Immer wenn ich und meine Freundinnen mal keine Termine nach dem Hort haben, muss eine von uns zum Impfen oder so was. Wenn du so alt wärst, wie ich, was würdest du tun?“
Oma Karina: „Weil sich um mich niemand gekümmert hat, habe ich als Kind viel rumgeträumt, leider auch in der Schule. Daher habe ich viel Wissen verpasst und musste später viel nachholen. Heute merke ich, dass ich viel Neues schnell wieder vergesse, während ich ganz viel von dem, was ich in der Schule gelernt habe, noch weiß. Ich würde aufmerksamer und gründlicher lernen. Ich möchte aber auf gar keinen Fall nochmal neun Jahre alt sein, weil mich die fehlende Lebenserfahrung viel zu unsicher und abhängig von der Meinung anderer Menschen machen würde. Es ist schön neun Jahre alt zu sein und sich die Welt neu zu erschließen, aber zweimal möchte ich das nicht.“
Alma: „Ich wäre gerne manchmal alt, weil ich dann auch so gute Freundinnen wie du hätte, auf die ich mich verlassen könnte. Du hast so gute Freundinnen, weil du so alt bist. Du hattest mehr Zeit, Freundinnen zu finden, die immer für dich da sind. Ihr unternehmt so viele lustige Sache zusammen, erlebt Abenteuer und macht euch schöne Geschenke. Das hätte ich auch gerne. Ich glaube, das ist auch gut für dich, weil du auch ohne Opa ganz viele Sachen machst. Was bedeutet denn Unabhängigkeit für dich?“
Oma Karina: „Unabhängigkeit bedeutet zuerst einmal finanzielle Unabhängigkeit für mich. So viele Frauen auf der Welt sind abhängig von ihren Partnern und müssen sich ihrem Willen beugen, weil sie sich nicht selbst ernähren können. So war es auch bei meiner Mutter und meinem Vater. Mein Vater hat diese Situation ausgenutzt und meine Mutter schlecht behandelt. Ich hatte immer eine eigene Arbeit, von der ich mich und meine beiden Kinder hätte ernähren können, wenn meine Ehe nicht gut gewesen wäre. Ich habe zwar mit Opa einen lieben Partner und tollen Mann gefunden, brauchte und wollte aber immer das Gefühl, ich lebe freiwillig in dieser Ehe, weil ich es will und nicht, weil ich es muss. Unabhängigkeit bedeutet für mich aber auch geistige Unabhängigkeit. Ich darf denken und sagen, was ich will und was ich für richtig halte.“
Alma: „Ich habe manchmal Sorgen, wenn ich so Sachen höre, dass Frauen nicht arbeiten oder die Männer alles bestimmen dürfen. Ich denke, dann wäre ich lieber eine Frau im Körper eines Mannes, der Geld verdient, bestimmen darf und immer genug Essen hat.
Wenn ich mal groß bin, will ich wie ein Mann sein. Ich will genauso lange arbeiten, genau die gleichen Rechte haben, genauso viel Geld verdienen, genauso lange Zeit die Kinder betreuen.“
Oma Karina: „Das macht mich traurig. Als ich jung war und für Gleichberechtigung gekämpft habe, war ich mir sicher, dass schon deiner Mama alles offensteht. Und jetzt sagst du, du möchtest gerne die gleichen Rechte wie ein Mann haben. Ich fühle auch, dass die Gesellschaft rauer geworden ist. Früher gab es feste Regeln, die jeder lernte und einhalten musste. Man sollte höflich sein zu älteren Menschen. Neulich stieg ich in Berlin in die U-Bahn und war ungefähr fünf Schritte von einem freien Platz entfernt. Das sah eine junge Frau, die viel weiter entfernt war, rannte los und fläzte sich auf den freien Platz. Junge Menschen grüßten ältere Menschen, halfen ihnen beim Tragen schwerer Taschen, hielten ihnen die Tür auf. Diese Regeln lernen die meisten jungen Menschen nicht mehr, denn viele sind kleine Egoist*innen geworden, die nur noch an sich selbst denken.“
Alma: „Das kann ich verstehen. Ich finde aber auch, dass ältere Menschen Kindern gegenüber ungeduldig sind oder sich schnell gestört fühlen, wenn Kinder laut spielen oder herumrennen. Zumindest bei uns in der Stadt. Bei dir ist das nicht so, aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich deine Alma bin. Ich glaube, früher waren die Menschen freundlicher. Alle schauen nur noch auf ihre Handys und schreien sich an, wenn sie ineinanderlaufen.“
Oma Karina: „Die Menschen sind dafür heute freier und selbstbestimmter. Das fängt in der Familie an. Früher hatten die Kinder in einer Familie nicht viel zu sagen. Das durften sie nur, wenn die Erwachsenen das wollten. Sehr selten durften wir als Kinder wünschen, was es zu essen gab. Oder wenn Besuch kam, mussten wir kurz erscheinen, höflich „Guten Tag“ sagen und dann wieder verschwinden und nicht stören. Wenn die Erwachsenen leckere Sachen aßen, durften wir Kinder die Reste essen. Da hat sich eine Menge verändert. Die Kinder sind in der Familie viel wichtiger geworden. Wenn die Kinder früher gegen diese oder andere Regeln verstoßen haben, wurden sie von ihren Eltern oder auch von ihren Lehrer*innen in der Schule geschlagen. Das ist heute zum Glück verboten. Welche Werte haben sich für dich verbessert?“
Alma: „Ich bin schon lange Vegetarierin und ich glaube, immer mehr Leute merken, dass es nicht gut für die Tiere und die Umwelt ist, Fleisch zu essen. Oma, das ist alles so ernst. Jetzt eine lustige Frage. Wen siehst du, wenn du in den Spiegel schaust?“
Oma Karina: „Ich sehe mich und ich mag mich. Das war nicht immer so. Früher gefiel mir vieles nicht an mir und ich wollte anders und schöner sein. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich das Gesamtergebnis und fühle mich alterslos. Und wenn ich mir ins Gesicht schaue, schaue ich mir unbewusst immer in die Augen. Die sind jung geblieben. Die Flecken im Gesicht und all die Falten nehme ich dabei gar nicht wahr. Und was siehst du?“
Alma: „Mein Gesicht, das Zähne putzt und mit Zahnpasta verschmiert ist. Blaue Augen, Sommersprossen und erdbeerrote Haare.“
Oma Karina: „So sehe ich dich auch: Wenn ich dich anschaue, dein wunderschönes Gesicht sehe, deine lebhaften Augen und alles eingerahmt von den schönsten Haaren, die ich je gesehen habe, dann denke ich: Das ist meine Alma, sie ist ein Teil von mir. Ich bewundere alles an dir. Dass du ein fertiger Mensch bist, der zu mir gehört. Ich bewundere deine emotionale Zartheit, deine Klugheit und deine Schönheit, deinen aufrechten Gang und deine Körperbeherrschung. Du bist so lieb und mir so zugewandt. Mit dir fühle ich mich geliebt und wichtig. Das heißt jetzt aber nicht, dass du nicht auch mal nervig sein kannst. Und es macht Spaß, mich mit dir zu unterhalten, mit dir zu spielen oder vorzulesen, weil du an vielen Dingen so interessiert bist. Wie siehst du mich?“
Alma: „Ich bewundere an dir, dass du so fit bist, obwohl du schon alt bist. Das will ich später auch sein. Ich bewundere deine guten Freundschaften. Und dass ihr zu zweit in so einem großen Haus wohnt. Wir müssen zu fünft in einer kleinen Wohnung wohnen. Mama ist nett. Aber Oma ist noch netter. Oma ist die netteste Person auf der Welt.“
Oma Karina: „Das fühlt sich für dich so an, weil ich keine direkte Verantwortung für deine Erziehung habe und dich bedingungslos so lieben darf wie du bist. Eine Mutter will das Beste für Ihr Kind und denkt ständig die Vergangenheit und die Zukunft mit. Die Vergangenheit, weil sie ihr Kind vor den Fehlern, die sie selbst gemacht hat, schützen und bewahren möchte und die Zukunft, weil ihr Kind langfristig ein gutes Leben haben soll. Vielleicht sogar noch ein besseres als die Mutter es selbst hat. Als Oma darf ich bedingungslos im Hier und Jetzt lieben und agieren. Was bedeutet denn Liebe für dich?“
Alma: „Ich weiß es nicht genau. Liebe ist Wärme von innen und bei Albträumen zu jemanden ins Bett krabbeln, der warm und sicher ist. Wenn ich keine Oma hätte, die so ist wie du, dann würde mir ein großer Teil an Liebe fehlen.“
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