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Alma, Mareike & Oma Karina: Über die Bindung zwischen den Frauen, die uns zu Tochter und Mutter machen

Alma, Mareike & Oma Karina

Über die Bindung zwischen den Frauen, die uns zu Tochter und Mutter machen


Ich bin eine Beobachterin der Beziehung zwischen Oma und Enkelin, ich bin die Frau dazwischen. Das Bindeglied als Tochter und Mutter, im ganz eigentlichen Sinne mittendrin. Mitten in der Familienlinie, der Lebenslinie, ein Bindeglied zwischen den Generationen. Die Mittelgeneration. Diejenige, die die eine zur Tochter und die andere zur Oma gemacht hat. Und mich hat die eine zur Tochter und die andere zur Mutter gemacht. Und doch: Die Beziehung zwischen Oma und Enkelin ist losgelöst, eigenständig. Ein eigener Organismus, der lebt und atmet. Ich kann die Beziehung unterstützen und vielleicht ermöglichen. Leben und fühlen kann ich sie nicht. Ich bin mittendrin und gleichzeitig außen vor. Der Oma-Enkelin-Organismus entwickelt kleine Geheimnisse und eigene Codes basierend auf gemeinsamen Erlebnissen, die ich erzählt bekomme. Das eigentliche Erleben findet nun ohne mich statt. Ich selber habe eine solche Beziehung nicht erlebt und nicht gefühlt. Die eine Oma verstarb zu früh, die andere war nicht greifbar. Vielleicht hinterlässt die fehlende Bindung zu meinen Omas eine Lücke, von der ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Bis eine solche Beziehung direkt vor meiner Nase entstand. Die Liebe zwischen meiner Tochter und meiner Mama ist eine geschenkte, eine grundsätzliche Liebe. Eine Liebe ohne Mühe, Verpflichtungen, eine große Liebe der uneingeschränkten Akzeptanz. Nicht ohne Streit und Schwierigkeiten, aber mit mir mittendrin als Konfliktpuffer.

Hey Nana -Alma und Oma Karina

Ich liebe und bewundere meine Mutter – auch weil sie meine Mutter ist. Manchmal war das mit der Bewunderung und der Liebe aber nicht so leicht – eben auch weil sie meine Mutter ist. Und ich glaube, umgekehrt verhält es sich genauso. Die Oma-Liebe für meine Tochter baut auf der Tochter-Liebe meiner Mutter auf. Die Enkelin wird für sich selbst geliebt und bekommt die Liebe zur mir noch obendrauf. Gratis dazu, Handgepäck, ohne Aufpreis. Es ist eine Liebes-Verdoppelung. Eine Kindeskind- Liebe. Ich liebe die Oma, die meine Mutter geworden ist und ich liebe und bewundere meine Tochter. Diese kluge, starke, streitbare, hochsensible Person. Nachtragend, unruhig, loyal, empfindsam. Von allem viel: Emotionen, Willen, Kopf, Präsenz, Gedanken und Haare. Und meine Mutter? Eine kluge, starke, streitbare, hochsensible Person. Nachtragend, unruhig, loyal, empfindsam. Im Älterwerden von allem etwas weniger als meine Tochter. Eine Oma und ein junges Mädchen. Unterschiedlich und gleich zugleich. 

Die beiden sollen hier nun zu Wort kommen:

Alma: „Oma, auf was bist du in deinem Leben richtig stolz?

Oma Karina: „Richtig stolz bin ich auf meine beiden Kinder, weil beide großartige Erwachsene geworden sind. Ich bin und war aber auch immer stolz auf meinen Beruf: die Ausbildung von jungen Bauarbeiter*innen und Bauzeichner*innen. Ich konnte den jungen Menschen neben Fachinhalten auch sehr viel Persönliches vermitteln. Das ist mir gut gelungen. Und auf was bist du stolz, Alma?“

Alma: „Ich bin stolz, dass ich so gut zeichnen kann und es mir selbst beigebracht habe. Das ist aber eine Frage, die Omas besser beantworten können, glaube ich. Ich bin auf kurze Sachen stolz, du auf lange wie deine Arbeit. Das ist ein großer Unterschied zwischen jungen und alten Leuten, glaube ich. Oma, was hat deine Generation, also alte Omas und Opas, was meine nicht hat?“

Oma Karina: „Meine Generation hat noch Entbehrungen nach dem Krieg erlebt. Ganz viele materielle Wünsche wurden mir nie erfüllt: kein eigenes Fahrrad, kein Instrument, kein Tennis und ganz wenig neue Kleidung. Dafür hatten wir viele Freiheiten. Wir wohnten bei meinen Großeltern mit im Haus und hatten einen großen Obstgarten. Wir wurden einfach morgens aus dem Haus gelassen und dann zu den Mahlzeiten gerufen. So habe ich bereits mit drei Jahren meine Freundin Uschi kennengelernt, die auch allein rausdurfte. Es war damals ungefährlich, weil es nur zwei Autos in unserer Straße gab, auf der viele Kinder gespielt haben. Wir konnten uns jeden Tag ausdenken, was wir spielen wollten. Klingt das gut für dich?“

Alma: „So viel Freiheit hätte ich auch gerne. Wir haben dafür modernere Sachen: Handys und Laptops. Oma, du hattest bestimmt keinen Beamer in der Schule, oder? In meiner Schule gibt es jetzt einen in jeder Klasse. Ich finde, meine Generation hat viel Stress. Alle haben immer Termine und Hobbys. Manchmal ist das richtig schwer, sich zu verabreden, weil so wenig Zeit bleibt zwischen Schule, Training, Kursen. Immer wenn ich und meine Freundinnen mal keine Termine nach dem Hort haben, muss eine von uns zum Impfen oder so was. Wenn du so alt wärst, wie ich, was würdest du tun?“

Hey Nana - Alma, Mareike & Oma Karina: Über die Bindung zwischen den Frauen, die uns zu Tochter und Mutter machen

Oma Karina: „Weil sich um mich niemand gekümmert hat, habe ich als Kind viel rumgeträumt, leider auch in der Schule. Daher habe ich viel Wissen verpasst und musste später viel nachholen. Heute merke ich, dass ich viel Neues schnell wieder vergesse, während ich ganz viel von dem, was ich in der Schule gelernt habe, noch weiß. Ich würde aufmerksamer und gründlicher lernen. Ich möchte aber auf gar keinen Fall nochmal neun Jahre alt sein, weil mich die fehlende Lebenserfahrung viel zu unsicher und abhängig von der Meinung anderer Menschen machen würde. Es ist schön neun Jahre alt zu sein und sich die Welt neu zu erschließen, aber zweimal möchte ich das nicht.“

Alma: „Ich wäre gerne manchmal alt, weil ich dann auch so gute Freundinnen wie du hätte, auf die ich mich verlassen könnte. Du hast so gute Freundinnen, weil du so alt bist. Du hattest mehr Zeit, Freundinnen zu finden, die immer für dich da sind. Ihr unternehmt so viele lustige Sache zusammen, erlebt Abenteuer und macht euch schöne Geschenke. Das hätte ich auch gerne. Ich glaube, das ist auch gut für dich, weil du auch ohne Opa ganz viele Sachen machst. Was bedeutet denn Unabhängigkeit für dich?“

Oma Karina: „Unabhängigkeit bedeutet zuerst einmal finanzielle Unabhängigkeit für mich. So viele Frauen auf der Welt sind abhängig von ihren Partnern und müssen sich ihrem Willen beugen, weil sie sich nicht selbst ernähren können. So war es auch bei meiner Mutter und meinem Vater. Mein Vater hat diese Situation ausgenutzt und meine Mutter schlecht behandelt. Ich hatte immer eine eigene Arbeit, von der ich mich und meine beiden Kinder hätte ernähren können, wenn meine Ehe nicht gut gewesen wäre. Ich habe zwar mit Opa einen lieben Partner und tollen Mann gefunden, brauchte und wollte aber immer das Gefühl, ich lebe freiwillig in dieser Ehe, weil ich es will und nicht, weil ich es muss. Unabhängigkeit bedeutet für mich aber auch geistige Unabhängigkeit. Ich darf denken und sagen, was ich will und was ich für richtig halte.“

Alma: „Ich habe manchmal Sorgen, wenn ich so Sachen höre, dass Frauen nicht arbeiten oder die Männer alles bestimmen dürfen. Ich denke, dann wäre ich lieber eine Frau im Körper eines Mannes, der Geld verdient, bestimmen darf und immer genug Essen hat.

Wenn ich mal groß bin, will ich wie ein Mann sein. Ich will genauso lange arbeiten, genau die gleichen Rechte haben, genauso viel Geld verdienen, genauso lange Zeit die Kinder betreuen.“

Oma Karina: „Das macht mich traurig. Als ich jung war und für Gleichberechtigung gekämpft habe, war ich mir sicher, dass schon deiner Mama alles offensteht. Und jetzt sagst du, du möchtest gerne die gleichen Rechte wie ein Mann haben. Ich fühle auch, dass die Gesellschaft rauer geworden ist. Früher gab es feste Regeln, die jeder lernte und einhalten musste. Man sollte höflich sein zu älteren Menschen. Neulich stieg ich in Berlin in die U-Bahn und war ungefähr fünf Schritte von einem freien Platz entfernt. Das sah eine junge Frau, die viel weiter entfernt war, rannte los und fläzte sich auf den freien Platz. Junge Menschen grüßten ältere Menschen, halfen ihnen beim Tragen schwerer Taschen, hielten ihnen die Tür auf. Diese Regeln lernen die meisten jungen Menschen nicht mehr, denn viele sind kleine Egoist*innen geworden, die nur noch an sich selbst denken.“

Alma: „Das kann ich verstehen. Ich finde aber auch, dass ältere Menschen Kindern gegenüber ungeduldig sind oder sich schnell gestört fühlen, wenn Kinder laut spielen oder herumrennen. Zumindest bei uns in der Stadt. Bei dir ist das nicht so, aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich deine Alma bin. Ich glaube, früher waren die Menschen freundlicher. Alle schauen nur noch auf ihre Handys und schreien sich an, wenn sie ineinanderlaufen.“

Oma Karina: „Die Menschen sind dafür heute freier und selbstbestimmter. Das fängt in der Familie an. Früher hatten die Kinder in einer Familie nicht viel zu sagen. Das durften sie nur, wenn die Erwachsenen das wollten. Sehr selten durften wir als Kinder wünschen, was es zu essen gab. Oder wenn Besuch kam, mussten wir kurz erscheinen, höflich „Guten Tag“ sagen und dann wieder verschwinden und nicht stören. Wenn die Erwachsenen leckere Sachen aßen, durften wir Kinder die Reste essen. Da hat sich eine Menge verändert. Die Kinder sind in der Familie viel wichtiger geworden. Wenn die Kinder früher gegen diese oder andere Regeln verstoßen haben, wurden sie von ihren Eltern oder auch von ihren Lehrer*innen in der Schule geschlagen. Das ist heute zum Glück verboten. Welche Werte haben sich für dich verbessert?“

Alma: „Ich bin schon lange Vegetarierin und ich glaube, immer mehr Leute merken, dass es nicht gut für die Tiere und die Umwelt ist, Fleisch zu essen. Oma, das ist alles so ernst. Jetzt eine lustige Frage. Wen siehst du, wenn du in den Spiegel schaust?“

Oma Karina: „Ich sehe mich und ich mag mich. Das war nicht immer so. Früher gefiel mir vieles nicht an mir und ich wollte anders und schöner sein. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich das Gesamtergebnis und fühle mich alterslos. Und wenn ich mir ins Gesicht schaue, schaue ich mir unbewusst immer in die Augen. Die sind jung geblieben. Die Flecken im Gesicht und all die Falten nehme ich dabei gar nicht wahr. Und was siehst du?“

Alma: „Mein Gesicht, das Zähne putzt und mit Zahnpasta verschmiert ist. Blaue Augen, Sommersprossen und erdbeerrote Haare.“

Oma Karina: „So sehe ich dich auch: Wenn ich dich anschaue, dein wunderschönes Gesicht sehe, deine lebhaften Augen und alles eingerahmt von den schönsten Haaren, die ich je gesehen habe, dann denke ich: Das ist meine Alma, sie ist ein Teil von mir. Ich bewundere alles an dir. Dass du ein fertiger Mensch bist, der zu mir gehört. Ich bewundere deine emotionale Zartheit, deine Klugheit und deine Schönheit, deinen aufrechten Gang und deine Körperbeherrschung. Du bist so lieb und mir so zugewandt. Mit dir fühle ich mich geliebt und wichtig. Das heißt jetzt aber nicht, dass du nicht auch mal nervig sein kannst. Und es macht Spaß, mich mit dir zu unterhalten, mit dir zu spielen oder vorzulesen, weil du an vielen Dingen so interessiert bist. Wie siehst du mich?“

Alma: „Ich bewundere an dir, dass du so fit bist, obwohl du schon alt bist. Das will ich später auch sein. Ich bewundere deine guten Freundschaften. Und dass ihr zu zweit in so einem großen Haus wohnt. Wir müssen zu fünft in einer kleinen Wohnung wohnen. Mama ist nett. Aber Oma ist noch netter. Oma ist die netteste Person auf der Welt.“

Oma Karina: „Das fühlt sich für dich so an, weil ich keine direkte Verantwortung für deine Erziehung habe und dich bedingungslos so lieben darf wie du bist. Eine Mutter will das Beste für Ihr Kind und denkt ständig die Vergangenheit und die Zukunft mit. Die Vergangenheit, weil sie ihr Kind vor den Fehlern, die sie selbst gemacht hat, schützen und bewahren möchte und die Zukunft, weil ihr Kind langfristig ein gutes Leben haben soll. Vielleicht sogar noch ein besseres als die Mutter es selbst hat. Als Oma darf ich bedingungslos im Hier und Jetzt lieben und agieren. Was bedeutet denn Liebe für dich?“

Alma: „Ich weiß es nicht genau. Liebe ist Wärme von innen und bei Albträumen zu jemanden ins Bett krabbeln, der warm und sicher ist. Wenn ich keine Oma hätte, die so ist wie du, dann würde mir ein großer Teil an Liebe fehlen.“

<3

Hey Nana - Alma, Mareike & Oma Karina: Über die Bindung zwischen den Frauen, die uns zu Tochter und Mutter machen

Diese OMAge stammt Mareike Schiller. Sie hat Publizistik studiert und arbeitet heute als Referentin für Kommunikation. Sie interessiert sich für intersektionalen Feminismus, Literatur und öffentliche Meinung und lebt mit ihren drei Kindern in Frankfurt am Main. Ihre Mutter Karina hat ihr vorgelebt, wie wichtig Solidarität unter Frauen und Unabhängigkeit sind. Früher hat Karina oft gesagt: „Ich werde mal eine tolle Oma.“ Und das ist sie.

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Annalena Baerbock: „Oma würde heute zu mir sagen: Mach alles, damit der Frieden gesichert bleibt!“

Annalena Baerbock: „Oma würde heute zu mir sagen: Mach alles, damit der Frieden gesichert bleibt!“


Hier geht es nicht um die Politik von Annalena Baerbock, wir sind bei HeyNana, hier geht’s um prägende Großmütter. Wobei, so ganz trennbar ist das bei unserer Außenministerin nicht – das politische Engagement habe sie schließlich von Oma. Aber von vorne: Alma Choroba hieß Annalenas Oma mütterlicherseits und ihr verdankt Annalena nicht nur Wertevorstellungen und Lektionen, sondern auch einen ihrer Vornamen. Gestatten, Annalena Charlotte Alma Baerbock, die erste Frau an der Spitze des Auswärtigen Amtes.

Fragt man die Grünen-Politikerin nach ihrem Vorbild, dann fällt immer ein Name: Alma, ihr Kraftmensch und ihre größte Inspiration, denn, so Annalena in einem kurzen Gespräch mit HeyNana, die Großmutter hätte immer ihre Vision für eine friedlichere und nachhaltigere Welt inspiriert.

Hey Nana - Annalena Baerbock

„Wir verdanken unseren Großmüttern, dass meine Generation und jüngere in Frieden leben konnten, denn die haben dieses Europa mitaufgebaut. Und es ist an uns, dieses Europa, das sie geschaffen haben, jetzt zu verteidigen.“

Der Antrieb kommt aus der Familienhistorie. Alma wurde 1926 in Oberschlesien (heute Polen, damals noch dem Deutschen Reich zugehörig) geboren, sie hat den Krieg als junges Mädchen miterlebt. Sie heiratet jung ihre erste große Liebe: Viktor. Doch der fällt im April 1945 in der Schlacht um Königsberg. Über den großen Schmerz der Kriegsjahre spricht Alma mit ihrer Enkelin – und zwar um stets klar zu machen, dass Frieden nicht selbstverständlich ist.

1958 siedelten Annalenas Großeltern aus Polen nach Niedersachsen über. Die ersten zwei Jahre verbrachten sie in einem Lager ganz in der Nähe von Hannover, bevor sie eine eigene Wohnung beziehen konnten. Alma Choroba arbeitete als Reinigungskraft in einer Sparkassenfiliale, in Annalenas Biografie („Jetzt: Wie wir unser Land erneuern”) schreibt sie darüber, dass sie als Kind oft mit dabei war und in den Geschäftsräumen spielte. Sie erinnert sich auch gern an die gemeinsame Zeit im Schrebergarten. Oma Alma las täglich Zeitung und war immer über die Weltlage informiert, bis zu ihrem Tod 2015 mahnte sie unablässig zum Frieden.

Sprung ins Jetzt: Es ist 2024 und Frieden scheint fragil. Die Erinnerungen an die dunklen Kapitel der europäischen Geschichte und die vermeintlichen Lehren aus den beiden Weltkriegen sind präsenter denn je. Da ist Besorgnis, da ist Anspannung und da ist Schmerz. Wo anfangen? Der Krieg in der Ukraine hat die Grenzen des Friedens auf unserem Kontinent wiederaufgezeigt und die geopolitischen Spannungen verstärkt. Wir sehen die humanitären Katastrophen, im Sudan, im Kongo, im Gazastreifen, auf der ganzen Welt und die massiven Fluchtbewegungen – auch durch die direkten Folgen der Klimakatastrophe. Laut EU-Kommission benötigen in 2024 fast 300 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Gleichzeitig erleben wir einen Anstieg an Antisemitismus und Rassismus in Deutschland und das „nie wieder“, das uns an die Zeiten, die Almas Generation erleiden mussten, erinnern soll, scheint plötzlich wie ein leeres Versprechen.

Es ist Annalena Baerbocks Job, den Frieden zu sichern. Unter anderem. Was würde Alma heute am Kaffe-Tisch zu ihrer Enkelin sagen? Was würde sie zur Europawahl und auch zu ihrem Job sagen? Da überlegt Baerbock nicht lange: „Ihre Hauptbotschaft wäre, mach alles, dass unser Frieden gesichert bleibt! Meine Oma ist die Generation, die den Krieg in seiner vollen Härte miterlebt hat. Und sie hat mir immer gesagt, Annalena, Frieden ist das Wichtigste und denke immer an die Frauen, weil auch sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung als Kriegsmethode eingesetzt wird – was wir auch in der Ukraine erleben von russischen Truppen genau wie die Verschleppung von Kindern. Im Krieg leiden die Schwächsten am meisten, würde sie sagen.“

Dieser Beitrag ist keine klassische OMAge. HeyNana-Initiatorin Edith Löhle nutzte die Chance, mit Annalena Baerbock am Rande der Pressekonferenz der Grünen zum Tourauftakt der Europawahl in Berlin über ihre Oma Alma zu sprechen.

Danke für die Realisation an die Agentur People Person. Foto: Grüne im Bundestag, S. Kaminski

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Amélie & Oma Annemarie: „Dieses Schweigen meiner Großmutter war das laute Schweigen des Großteils einer ganzen Generation. Mich prägt es vielleicht bis heute. “

Amélie & Oma Annemarie

Ich habe Panik, dass ein falsches Wort meinerseits dazu führen könnte, dass meine Großmutter post mortem gecancelt wird


Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, wollte ich meine Großmutter anrufen und ihr Fragen stellen. Ich sah sie vor meinem geistigen Auge an ihrem runden Esstisch sitzen, vor sich Eier und Räucherlachs, hinter sich ihre geliebte dunkelgrüne Wand. Das Esszimmer war das Zentrum ihres Universums, regelmäßiger Treffpunkt der Familie unter ihrem eisernen Regiment. „Wie war das im Krieg?”, hatte ich sie als Kind einmal gefragt. Sie schwieg damals lange. Furchtbar sei es gewesen, war alles was sie sagte. An diesem Abend steckte sie meine Bettdecke noch fester als sonst unter die Matratze, bevor sie die Tür schloss und ich kurz darauf nur noch die große Wanduhr im Flur ticken hörte. Dieses Schweigen meiner Großmutter, das ich so zum ersten Mal wahrnahm, war das laute Schweigen des Großteils einer ganzen Generation. Mich prägt es vielleicht bis heute.

Ich kann meine Großmutter nicht mehr anrufen und ihr Fragen stellen, denn sie ist bereits verstorben. Aber seit diesem Tag im Februar, an dem ich sie so deutlich vor mir sah, will ich über sie schreiben. Jedoch weiß ich nicht, ob ich dies überhaupt kann oder darf. Aus zwei Gründen: Wir hatten eine schwierige Beziehung und Oma war Deutsche, so wie ich. Will ich über sie und unser Verhältnis sprechen, muss ich auch auf die Erfahrung einer Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg Bezug nehmen. In einem Jahr, in dem die AfD voraussichtlich die Landtagswahlen in mehreren Bundesländern gewinnt, rassistische und antisemitische Angriffe sich in der ganzen Welt häufen und die öffentliche Debatte in Deutschland so heiß läuft wie noch nie zuvor, scheint solch ein Text riskant. Zu schnell kann er missverstanden werden. Ich habe Panik, dass ein falsches Wort meinerseits dazu führen könnte, dass meine Großmutter post mortem gecancelt wird. Oma würde mich wahrscheinlich nur verständnislos mit blauen Augen anschauen und mich dann achselzuckend in ihre Küche mitnehmen, um mir zu zeigen, wie man möglichst elegant Schokopudding über Dosenbirnen in kleine Glasschälchen kippt.

Oma Annemarie und Amelie_Über das Schweigen

Während die Taten des Nationalsozialismus unverzeihlich sind, so ist die Erinnerung an Familienmitglieder nicht immer nur schwarz oder weiß. Ich will mit Empathie an meine Großmutter denken, auch wenn ich sie oftmals nicht ausstehen konnte. Meine Mutter verspricht mir zu helfen und versucht, meine Wissenslücken mit Fotos und ihren eigenen Erinnerungen zu füllen. Während wir telefonieren und über Oma sprechen, müssen wir beide weinen – kurz darauf streiten wir heftig. Meine Mutter ist ebenfalls ein Buch mit sieben Siegeln und ich fühle mich oft missverstanden, wenn wir über die Familie sprechen. Mama geht es in der Beziehung mit mir wahrscheinlich ähnlich. Einige Stunden später sitze ich am Fenster meiner Pariser Wohnung und suche das Licht des Eiffelturms.

Während die Welt draußen sich immer schneller dreht, verschwimmen Bilder aus meiner Kindheit mit den Erzählungen meiner Mutter und werden zu Fiktion. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft, wenn ich mit Freundinnen und Freunden rede, die zögern, ihre Religionszugehörigkeit offen zu zeigen, oder wenn Sicherheitsexpert*innen nach Ende eines Interviews von Angst sprechen.

Meine Großmutter hieß Annemarie Leister, geboren 1929 in Thüringen. Sie war 16 Jahre alt, als der Krieg endete und die russische Besatzung begann. Dort setzt die Erzählung meiner Mutter ein. Über die Kriegsjahre sprechen wir am Telefon nicht, was mich nicht überrascht. Ich frage gar nicht erst danach und mache mir hastig Notizen, während Mama sich an ihre Mutter erinnert, was nicht oft passiert. Beide Frauen sprachen zu Lebzeiten eher selten miteinander. Oma Annemarie’s Vater war Lehrer und Parteimitglied, erfahre ich so zum ersten Mal. Ob er die Propaganda glaubte, ob meine Großmutter sie glaubte, ich weiß es nicht. Parteimitglieder durften nach Kriegsende nicht arbeiten, erzählt meine Mutter, die Familie hatte also kein Auskommen. Annemarie ist das älteste von vier Kindern und beginnt direkt nach dem Abitur als Sekretärin zu arbeiten. Was sie verdient, tritt sie zuhause ab. Sie kümmert sich um ihre Geschwister und wird für sie zur Bezugsperson, schließlich finanziert sie die Ausbildungen für alle drei. Jeden Abend läuft sie von der Arbeit nach Hause und wartet auf Zeichen ihres Vaters. Sind russische Soldaten in der Nähe, dreht sie wieder um und kommt anderswo unter. Begegnet sie Soldaten auf der Straße, versteckt sie sich am Straßenrand. Ich frage mich, ob ich ihre Kraft gehabt hätte. Ich frage mich, was ihr damals durch den Kopf ging. Während meine Generation sich auf sozialen Medien profiliert, vergrub meine Großmutter ihr Gesicht im Straßengraben. „Oma wollte Lehrerin werden”, so meine Mutter. Stattdessen verhandelte sie mit den Russen, brachte die Familie in den Westen und verlobte sich 1955 mit meinem Großvater. Sie legte ihre Träume ab wie ihren Mädchennamen.

Dialog mit Erinnerung

Ein Haus wie das andere, der Garten mit der großen Terrasse und den vielen Spatzen, Omas Paradies. Der Zierbrunnen, in welchen ich als Kind zum großen Ärger meiner Familie mit großer Freude Steine warf, immer makellos. Wir waren selten bei meinen Großeltern zu Besuch. Am häufigsten wahrscheinlich, als ich noch ein Kleinkind war. Ich war Asthmatikerin und dauernd krank, nahm jeden Tag mehrmals Medikamente. Auch meine Großmutter hatte Asthma, erinnert sich meine Mutter. Oma sprach jedoch nie darüber und ging stattdessen nach Atem ringend und würgend ins Nebenzimmer, damit meine Mutter es nicht merkte. Oma wollte niemandem zur Last fallen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, zu ersticken und frage mich bis heute, wie sie ohne Kortison zurechtkam.

Während mein Großvater mir als Kind vorlas und ich Medikamente inhalierte, hantierte Oma in der Küche, um für alle zu kochen. Immer wenn sie buk, durfte ich die Schüssel mit Teig auskratzen. Essen war die einzige Sprache meiner Oma. Nicht nur ihre Sprache der Liebe, Ernährung war für sie auch Kontrolle. Sie entschied, was auf den Tisch kam und wer nicht genug aß, fiel in Ungnade. Ich erinnere mich nicht, wie ich mich als Kind in Omas Gegenwart gefühlt habe, aber sie wird ihre Familie sehr geliebt haben. Nur aus ihrem Panzer ausbrechen, sich verletzlich zeigen, um Hilfe bitten, das konnte sie nicht. Später wurden die Besuche bei den Großeltern seltener. Oma kam noch zu meinen Geburtstagen oder wir sahen sie an Nikolaus. Je älter ich wurde, desto mehr spürte ich die Anspannung meiner Mutter bei diesen Treffen. Als ob sie beweisen müsste, dass sie alles könne: Perfekte Mutter, perfekt Hausfrau, perfekte Karriere. Ich hatte mir als Kind oft gewünscht, dass man als Familie einfach gemeinsam am Tisch sitzt und lacht. Schließlich habe ich beide Frauen geliebt.

Oma Annemarie _ Erinnerung

Ich denke manchmal, ich muss meine Großmutter sehr enttäuscht haben. Anstatt in der Rolle als liebevolle Tochter, Schwester und zukünftige Ehefrau aufzugehen, wollte ich etwas anderes. Ich wollte lernen und studieren, vor allem wollte ich mich nicht deutsch fühlen. Das Deutschsein war für mich schmerzhaft, bis heute schreibe ich ungern in meiner Muttersprache. Ich arbeitete als Model und Journalistin, während Oma wahrscheinlich vergebens auf meine Verlobung wartete. Dass sie meine Hochzeit – so ich denn eines Tages heiraten werde – nicht mehr erleben kann, macht mich seltsam traurig. Das Mädchen in mir will es ihrer Großmutter wohl noch immer Recht machen, auch wenn es beinahe an dem Versuch zerbrach.

Eine Frau war für Annemarie weniger wert als ein Mann. So brachte sie mir bei, meinem Bruder alles hinterherzutragen und nicht zurückzuschlagen, sie schenkte mir Geschirr für die Aussteuer und brachte mir liebevoll das Backen bei. Andererseits bezeichnete sie mich auf Familienfeiern als schwarzes Schaf und schaute missbilligend auf meine kurzen Haare und langen Beine. Sie schwieg zu Politik, sie schwieg zum Krieg, sie schwieg zu meinen Träumen, also begrub auch ich sie lange Zeit.

Bis heute weiß ich nicht, was für ein Mensch meine Oma war.

Wie ich, wollte auch meine Mutter dem Leben als Hausfrau entkommen. Mama floh vor den Geschichten aus der russischen Besatzungszeit nach Frankreich und Italien, um sich selbst und später ihren Kindern im Süden ein neues Zuhause zu geben. Sie ging in den 70ern und 80ern als Feministin auf die Straße, gab Frauenreiseführer heraus und drehte Filme. Sie schaffte, was für viele Frauen ihrer Generation unmöglich war: Sie hatte Kinder und eine Karriere, auf die sie stolz war. Um die Kraft dafür zu haben, sprach sie so gut wie nie mit ihrer Mutter. Und wenn Mama doch ab und an den Stuhl ans Telefon im Wohnzimmer rückte, kurz Luft holte und die Trierer Vorwahl tippte, wusste ich immer, was kam. Entweder sie schwieg nach dem Telefonat, oder sie weinte. Meine Mutter hatte nach den Gesprächen mit Oma immer ein schlechtes Gewissen.

Ich denke oft, dass ich ganz anders bin als meine Großmutter und Mutter, liebevoller. Zugleich weiß ich, wie viel von beiden ich in mir trage. Das Schweigen beider Frauen wurde zu meinem Bedürfnis, über alles zu reden und zu schreiben. Der Kampf meiner Mutter wurde mit zum Beweggrund vieler meiner beruflichen Entscheidungen. Die Scham, mit dem Nationalsozialismus direkt oder indirekt in Verbindung zu stehen, erlaubt mir, anderen zuzuhören. Die Träume, die meine Großmutter nicht leben konnte, sind mein größter Antrieb.

Ich habe keine Lösung für die aktuelle Angespanntheit im deutschen öffentlichen Raum. Es fühlt sich für mich auch anmaßend an, diese überhaupt zu suchen. Was ich von der Beziehung mit meiner Großmutter gelernt habe, ist, dass man manchmal Schweigen akzeptieren muss – ob man will oder nicht. Dass man aber auch einem schweigenden Menschen zuhören kann. Dass man lieber versöhnlich sein sollte, als vorschnell zu urteilen. Dass es keine einfachen Antworten gibt, dass eine jede Person eine eigene Wahrheit lebt und dass es sich lohnt, diese zu suchen. Vielleicht ist es das, was uns gerade fehlt. Ein Raum, in dem wir einander wirklich zuhören.

Meiner Mutter habe ich den Text geschickt und sie fand ihn gut. „Oma würde es nicht ganz verstehen, aber sich insgeheim freuen. Sagen würde sie natürlich nix”, kam als Antwort aufs Handy.

Hey Nana - Jadu und Oma Maria

Diese OMAge stammt von Amélie Baasner. Sie ist studierte Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin. Seit 2018 arbeitet sie als freie Journalistin in Deutschland, Frankreich und Italien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Feminismus, Subkultur und Fotografie, aber auch Menschenrechtsthemen und Klimawandel. Sie setzt sich vermehrt für eine europäische Öffentlichkeit und die Kooperation europäischer Leitmedien ein.

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Tanja & Oma Ringel: „Zum Inventar unseres Hauses gehört Oma Ringel. Welch schöner Bonus in meinem Leben, denn ich bin nicht mehr omalos”

Tanja & Oma Ringel

Vom Glück einer Bonus-Oma.


Moin. Ja, in Hamburg da secht wi Moin oder ganz förmlich „Guten Tag“. Ich bin Tanja, fast 43, was sich seit Jahren eher wie Mitte 20 anfühlt. In meinen Genen fließt das Blut eines waschechten wortkargen Hanseaten und einer polnisch-deutsch-schwedischen, überhaupt nicht wortkargen, Mutter. Herausgekommen bin ich: eine Teilzeit-Extrovertierte, manchmal leicht spirituelle Tochter, die an Mondphasen glaubt, an Familie und Werte, die ihre eigene Meinung vertritt und Kaffee als Lebenselixier auch intravenös genießen würde.


Mein Sohn ist 19, studiert, hat 2021 seine eigene Firma gegründet und wohnt auch nicht mehr im Hotel Mama. Was ich schade finde, denn mein egoistisches Selbst hätte ihn gerne noch eine Weile bei mir gehabt. Ja, loszulassen fiel mir schwer – auch wenn ich dachte, dass ich gar nicht klammere. Pfft. 
Habe ich doch manchmal leicht herablassend über die „Helikopter Mamas“ geschimpft. 
Auf die emotionale Reise des Flügge-Werdens war ich nicht vorbereitet und musste selbst erkennen, wie wichtig es ist, sein Kind in die Welt zu entlassen.

Mit dem Auszug meines Sohnes stand bei mir ein Umzug an. Denn was sollte ich allein in unserer Vier-Zimmer-Wohnung? Ein neuer Mann, mit dem ich jetzt sogar verlobt bin, trat fast zeitgleich mit Samuels Auszug in mein Leben. Es kam, wie es kommen musste: Kennenlernen, verlieben, zusammenziehen. Ging alles irgendwie schnell.

 Ich lebe jetzt seit knapp 1,5 Jahren kurz vor der Grenze zu Norderstedt, was immer noch Hamburg ist, aber sich für eine Bergedorferin, was auch zu Hamburg gehört, fast wie auswandern anfühlt. 

Wir wohnen mit zwei Fellnasen, jeder Menge Starwars und Startrek-Kram (know the difference!) und berufsbedingter aufwendiger Influencer-Ausstattung (viel Klamotten, Ringlichter, Kameras und Beauty-Krams) in einem schnuckeligen Haus am Stadtrand.

Zum Inventar gehört außerdem Oma Ringel, die im unteren Bereich des Hauses ihr Zimmer und eine Terrasse hat.

Hey Nana - Carina & Oma Elfriede

Ich bin nicht mehr „omalos“ und das freut mich von Herzen

Ich weiß, dass mag vielleicht für einige eine ungewöhnliche Kombination sein. Das Mehrgenerationen-Haus ist bestimmt eine beängstigende oder gar utopische Vorstellung. 
Gerade in der heutigen Zeit, wo alte Werte vielleicht gar nicht mehr „en vogue“ sind und jede;r so individuell wie möglich leben kann und soll. Es mag aber auch sein, dass ich nicht mehr „omalos“ bin und mich das von Herzen erfreut.
 Mir war klar, dass wenn ich mich für ein gemeinsames Leben mit André entscheide, dann gehört Oma Ringel mit dazu. Sie ist die letzte lebende Verwandte (mütterlicherseits) und auch irgendwie die letzte Verbindung zu Andrés Mutter, die 2005 leider an Krebs verstarb.


Oma Gertrud ist knapp 94 Jahre jung und im Kopf fitter als manch junger Mensch.
 Sie hat Hände, die voller Falten und Lebensgeschichte sind, und dennoch so zerbrechlich und voller Stärke, dass sie mich direkt an die zarten Hände meiner Oma Sophie erinnern.


Gertrud ist vielleicht etwas langsamer und schneller aus der Puste, aber sie macht alles in ihrem Tempo. Unsere Hilfe braucht sie meistens nicht. Sie wäscht ihre Wäsche, was mir jedes Mal Schnappatmung macht, wenn ich sie die Kellertreppe heruntergehen sehe. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie hinfällt. Aber, sie will es so. Diskutieren zwecklos. 
Sie duscht sich allein und legt sich jeden Samstagmorgen die Haare.
 Wir haben es mal mit dem Dyson ausprobiert. Hält aber nicht so gut, sagt Gertrud.
 Sie näht mir meine Knöpfe an oder repariert meine Oberteile. Und dies so feinsäuberlich und akkurat, dass ich echt nur staunen kann. Ja, Gertrud ist aktiv und munter. Nur der Körper will nicht mehr so, wie sie es gerne hätte.


Oft sprechen wir über alte Zeiten und sie holt ihr 200-seitiges Dokument über ihre Heimatstadt in Polen heraus, was vor dem zweiten Weltkrieg noch zu Deutschland gehörte. 
Ich höre jedes Mal, wenn sie spricht, den alten Schmerz heraus, der ganz tief sitzt. Und auch die große Sehnsucht, all die Traumata, die sie als junges Mädchen erlebt haben muss. Psychologische Betreuung, das gab es damals nicht.

Sie erzählt mir von ihren Eltern und Geschwistern und, dass sie ihr Haus und alles Hab und Gut zurücklassen und vor den polnischen Soldaten fliehen mussten.
 Sie wurde gezwungen eine „Nazi-Binde“ zu tragen, damit man weiß, zu wem sie „gehöre“.
 Musste weglaufen, unter freiem Himmel schlafen, hungern, frieren und in Hamburg ganz von vorne anfangen. All das, was Menschen gerade anderswo auch heute noch erleben.


Hey Nana - Carina & Oma Elfriede

Für mich ist ihre Stärke trotz aller Zerbrechlichkeit stets allgegenwertig. 
Sie erinnert mich an meine Omas und daran, dass das Leben gelebt werden muss. Und zwar heute. 
Oma Ringel zeigt mir, wie wichtig es ist, Zeit mit älteren Menschen zu verbringen. Wie bedeutend es ist, von ihnen zu lernen und ihre Ratschläge auch anzunehmen. 
Sie hat mir beigebracht, dass alt werden ein Privileg ist. Was mir nochmal besonders durch den Tod meines 42-jährigen Cousins in diesem Jahr bewusst geworden ist. Nicht jede:r von uns wird alt werden. 


Zu Weihnachten wünscht sie sich wie immer nichts, da sie schon alles habe. Woran wir uns natürlich nicht halten werden. Sie bekommt eine Orchidee aus Lego, weil sie gerne bastelt und dunkle Schokolade, weil die andere ihr zu süß ist. 
Und sie geht mit uns auf große Tour zu meinen Eltern in den Oberharz. Dort war sie zuletzt in den 70ern und sie mochte die Luft damals nicht so. Aber das hat sich heute sicherlich geändert, sagt sie.



Ich habe meine Bonus-Oma sehr lieb und wünsche uns noch viele gemeinsame Jahre.
 Sie ist nicht nur eine Bereicherung für mich, sondern auch eine Uroma für meinen Sohn, und wie eine Mama für meine Mama und meinen Papa.

 Welch schöner Bonus in meinem Leben!




Diese OMAge stammt von Tanja Marfo. Sie hat sich oben ja wunderbar selbst vorgestellt, aber wichtig zu erwähnen ist noch: Tanja, aka @kurvenrausch bei Instagram, setzt sich seit vielen Jahren für Toleranz und Köpervielfalt ein. In der Plus-Size-Szene hat sie viel bewegt und Ende 2022 dann die erste Ausgabe ihres  Magazins „Size Egal” herausgebracht. 

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Angelique & Ingeborg: „Omi, ich bin jetzt vegan”

Angelique & Oma Ingeborg:

„Omi – für mich die beste Köchin der Welt. Also packte ich all meinen Mut zusammen und es platzte aus mir heraus: „Omi, ich bin jetzt vegan!“


Ungefähr drei Monate nach meiner Entscheidung, vegan zu leben, stand der langersehnte Heimatbesuch an. Endlich konnte ich meine Familie wieder in die Arme schließen. Es war also auch an der Zeit, meinen Liebsten von all den Veränderungen und meiner neuen Lebensweise zu berichten. Ich war richtig aufgeregt! Die Beine haben gezittert, und ich habe geschwitzt. Aber wieso eigentlich? Na, weil ich weiß, wie skeptisch ich selbst gewesen war – und bei dem Gedanken daran, meinen Großeltern erklären zu müssen, dass ich von nun an nie wieder ihre Königsberger Klopse, Schnitzel oder sogar den weltbesten Erdbeerkuchen essen würde, wurde mir ziemlich bang.

Omi – für mich die beste Köchin der Welt. Die mich mit all ihren Leckereien verzauberte. Bei ihr wird jeden Tag fleißig gebacken, die ganze Küche riecht immer nach frischem Kuchen. Sobald ich die Treppe zu meinen Großeltern runterlaufe, fühlt es sich allein durch den Geruch immer
sofort wohlig und nach Ankommen an. Und in der Mitte meine Omi, stolz wie Oskar, wenn sie ihren Rezepten die Kirsche auf der Sahnetorte verleihen kann

Ja, da kann man schon mal nervös sein. Wie wird sie reagieren? Was wird sie sagen? Wird sie es verstehen, wenn ich es ihr erkläre? Also packte ich all meinen Mut zusammen und es platzte aus mir heraus: „Omi, ich bin jetzt vegan!“

Hey Nana - Angelique & Ingeborg: „Omi, ich bin jetzt vegan"

Omi guckte irritiert. »Vegan? Was bedeutet das, mein Schatz?«

„Wie soll ich dir das am besten erklären? Also, ich esse keine tierischen Produkte mehr. Also kein Fleisch, keine Eier, keine Milch, keinen Käse.“

„Ach, Kindchen, was soll ich dir denn jetzt noch kochen? Wie kann ich dir denn noch etwas Gutes tun? Ist das denn überhaupt gesund? Dir wird doch so viel fehlen. Dann kann ich dir ja gar nicht mehr deine Lieblings- Zwetschgenknödel machen, oder?“ Sie guckte ganz traurig. Da nahm ich ihre Hand und fing an, es ihr zu erklären.

„Oma, ich habe meiner Gesundheit zuliebe damit angefangen, und es geht mir schon so viel besser. Meine Migräne ist nicht mehr so stark und kommt immer seltener. Außerdem möchte ich nicht, dass Tiere für meinen Genuss leiden müssen. Egal, wie sie gehalten werden. Es ist eben leider nicht mehr wie früher. Da war all das noch etwas Besonderes. Der berühmte Sonntagsbraten etwa. Fleisch war damals etwas Besonderes, etwas, auf das man sich die ganze Woche gefreut hat. Und jetzt? Jetzt ist dieser Wert verloren gegangen.“

Daraufhin überlegte sie. „Ja, da hast du recht. Früher in der Nachkriegszeit kannten wir es gar nicht anders. Da konnten wir uns tierische Produkte nicht leisten und mussten erfinderisch werden. Aus wenig das Bestmögliche rausholen.“

Und auf einmal begann sie, von früher zu erzählen. Ich lauschte ihr lächelnd, wie sie in Erinnerungen schwelgte und immer wieder schmunzeln musste. Und dachte mir nur: Was für eine tolle Omi ich doch habe!

Was Oma über all das denkt

„Omi, ich bin jetzt vegan!“ Das war das Erste, was sie mir bei ihrem Besuch sagte. Natürlich wusste ich zuerst nicht, was ich ihr antworten sollte, und dann dachte ich mir nur: Was kann ich dem Kind denn jetzt noch kochen?! Alles, was sie gerne bei mir aß, war mit Zu taten wie Eiern, Butter oder Milch gebacken oder gekocht. „Oje“, dachte ich, „jetzt bist du 72 Jahre und sollst noch mal neu kochen lernen.“

Da fiel mir auf einmal meine Mutter ein, die mir vieles gezeigt und nach dem Krieg mit wenig Zutaten immer etwas Leckeres auf den Tisch gebracht hatte. Wir hatten damals einen großen Garten, wo jedes Jahr viel Gemüse und etliche Kräuter gezogen wurden. Einen Apfel- und Kirschbaum gab es auch. Den Sommer über konnten wir ernten, und für den Winter wurde eingekocht. Schon als Kind habe ich gewusst, wie man Marmelade und Apfelmus macht, auch heute noch mache ich das selbst.

Es tut mir immer sehr weh, wenn ich das viele Obst sehe, das nicht gepflückt wird oder auf dem Boden liegen bleibt. Und all das, was meine Mutter mir früher
gezeigt hat, war meist ohne tierische Produkte zubereitet, da sie einfach sehr teuer waren und wir uns das nicht leisten konnten.

Wie habe ich es doch geliebt, wenn es Kohlrabi-Schnitzel mit Kartoffeln gab! Alles frisch aus unserem Garten und – ja, auch pflanzlich. Wir hatten damals nur den Begriff „vegan“ noch nicht. Aber vom Prinzip her genau das Gleiche. Und uns hat als Kindern auch nichts gefehlt. Wir sind gesund und munter gewesen.

Wie sollte das heutzutage anders sein?, frage ich mich. Selbst heute habe ich noch einen kleinen Garten und versuche immer, das Wichtigste anzupflanzen oder zu säen. Viel Salat, Kohlrabi, Karotten, Zwiebeln, Tomaten, Zucchini, Sellerie und natürlich viele Kräuter. Da ich Enkelkinder und Urenkel habe, die öfter bei mir essen, koche ich viele Suppen damit, die sie alle lieben. Dazu brauche ich kein Fleisch, aber viel Gemüse. Also warf ich alle meine ersten Sorgen über Bord und habe mich einfach immer mehr mit der veganen Ernährung auseinandergesetzt. Als Angie wieder zurück nach Berlin gefahren war, begann ich, beim Kochen und Backen Neues beziehungsweise „Altes“ auszuprobieren.

Und stellte fest: Es ist tatsächlich gar nicht schwer, und ich habe so viel Freude daran! Jedes Mal, wenn sie mich besuchen kam, tüftelten wir gemeinsam an veganen Kreationen wie ihren allerliebsten Aprikosenknödeln mit Zucker und goldbraun geschmolzener Margarine. Mittlerweile gibt es immer viel Veganes, wenn mein Enkelkind zu Besuch kommt. Genauso wie an Familienfeiern. Und alle lieben es. Denn es schmeckt genauso wie vorher – und gesünder ist es obendrein. Hach, ich koche und backe für mein Leben gerne!

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wie meine Liebe zum Kochen entstand, muss ich immer schmunzeln. Meine Mutter hat mir damals zwei Ziegelsteine in den Garten nebeneinandergestellt, einen alten Ofenrost und einen Aluminiumtopf darauf. So habe ich für die Nachbarskinder immer Suppe und Pudding gekocht.

Heute sind die Nachbarskinder auch schon fast 70 Jahre, aber keiner von ihnen hat diese schöne Zeit vergessen, wie ich sie bekocht habe und was wir für einen Spaß zusammen hatten. Ja, diese Liebe zum Essen ist heute immer noch genauso stark.

Hey Nana - Angelique & Ingeborg: „Omi, ich bin jetzt vegan"

Diese OMAge stammt von Angelique Vochezer. Genau genommen aus dem Buch „Omi, ich bin jetzt vegan”, das im Verlag Allegria erschien. @angeliquelini steht für eine junge Generation, die verantwortungs-, umweltbewusst und gesund genießen möchte. Ihre Oma Ingeborg Teßmann hat die Gerichte aus der Kindheit in vegan übersetzt. Sie liebte das Kochen schon immer und führte jahrelang selber ein eigenes Restaurant. Sie mag zwar immernoch einen gescheiten Sonntagsbraten, aber für Ihre Enkelin hat sie sich auf das „Abenteuer vegan“ eingelassen.

Hey Nana - Angelique & Ingeborg: „Omi, ich bin jetzt vegan"

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„Wenn ich so alt wäre wie du“ Musikerin Mogli interviewt ihre Oma Barbara

„Wenn ich so alt wäre wie du“ 

Mogli interviewt ihre Oma Barbara

Hey Nana -  Musikerin Mogli  und Ihrer Oma Barbara


Auf was bist du so richtig stolz in deinem Leben?

Barbara: Puh, ich bin auf mein Leben, wie ich es gestaltet habe, total stolz. Wie ich das alles hingekriegt habe, von der Studentenehe mit Kindern und ohne Geld hin zum relativen Reichtum und Glück in meinem Leben. Ich habe mich selbst weiterentwickelt – vom schüchternen Mädchen zu einer jungen Frau, die sich eigentlich nichts getraut hat zu einer selbstbewussten Frau. Und jetzt bin ich super stolz auf mein neues Zuhause, dass ich nur für mich alleine und niemanden sonst gemacht habe.
Mogli: Das sind aber ganz viele und ganz schöne Antworten.
Barbara: Muss ich dich nicht auch mal was fragen?
Mogli: Wir fragen uns gegenseitig.
Barbara: Worauf bist du richtig stolz in deinem Leben?
Mogli: Ich bin stolz darauf, dass ich mutig bin und gelernt habe, um Hilfe und Unterstützung zu bitten. Und darauf, wie viel Liebe ich in mir habe und wie ich die in die ganze Welt verstreue.


Was hat deine Generation, was meine nicht hat?

Mogli: Da fällt mir als erstes Tinder ein [lacht]. Das ist so eine Online-Dating-Plattform, also eine App.
Barbara: Das ganze „Online sein“ im Grunde genommen. Wir haben es uns angeeignet, aber es ist nicht unser Ding geworden.
Mogli: Ich gehöre gerade noch zu der Generation, die auch ein Leben hatte, ohne Internet und ohne Handys. Das macht mich schon auch zu einer besonderen Generation dazwischen. Wir haben noch erlebt, wie es ohne es ist, sind jetzt aber trotzdem damit vertraut. Und die, die nach mir kamen, also keine zehn Jahre nach mir, die kennen es schon nicht mehr ohne…
Was haben wir denn noch? Nachhaltigkeitsbewusstsein?
Barbara: Das war bei uns wirklich nicht vorhanden.
Mogli: Auf der einen Seite nicht, aber es gab ja auch immer Ökos. Davon bist du ja auch eine gewesen.
Barbara: Sogar Freunde von mir haben vor 40 Jahren schon Carsharing gemacht, das nannten wir eben nicht so. Wir haben miteinander geteilt. Wir haben im Dorf einziges Auto für fünf bis sechs Familien genutzt.


Wenn du so alt wärst wie ich – was würdest du tun?

Barbara: Wenn ich so alt wäre wie du, dann würde ich auch auf die Straße gehen und ich würde aktiver für die Umwelt kämpfen. Und wenn das meine Energie zulässt, würde ich mich vielleicht auch politisch grün mehr einbringen. Da würde ich mich vielleicht sogar aufstellen lassen für einen Gemeinderat oder so. Und ich würde versuchen, die Kirche umzukrempeln.
Mogli: Das hast ja auch gemacht in meinem Alter. [lacht]
Barbara: Habe ich ja auch. Aber es war nicht so nachhaltig ehrlich gesagt.
Mogli: Meinst du die Kirche lokal hier?
Barbara: Allgemein die evangelische Kirche erneuern, mehr unter Leute gehen, mehr für junge Leute tun und mit jungen Leuten machen. Also gerade im Coronajahr hat es angefangen eigentlich, dass die Kirche nach draußen ging. Es gab super Gottesdienste draußen! Aber es ist auch die Sozialarbeit, die die Kirche mehr leisten müsste.
Mogli: Interessant, dass du es auf die Kirche beziehst! Weil ich einfach denke, dass man ja auch mehr soziale Organisationen gründen kann. Es muss ja nichts mit Gott und dem Glauben zu tun haben.
Barbara: Ja, aber mir ist die Kirche wichtig und der Glaube. So, und wenn du jetzt 77 wärst, meine Liebe?

Mogli: Ich glaube, ich würde auf der einen Seite zwar versuchen, ein gesundes Leben zu führen, Yoga machen und so – aber auf der anderen gleichzeitig verschiedene Drogen ausprobieren, weil sie mir nicht mehr so schaden könnten. Ohne schlechtes Gewissen zu habe.
Barbara: Ist ja witzig!
Mogli: Ohne mir Energie für wichtige Dinge im Leben zu nehmen oder jetzt noch irgendwas sein zu müssen oder noch was erreichen zu müssen. Das ist natürlich auch nur ein Platzhalter. Nicht nur Drogen, aber halt einfach lauter Sachen machen, die nur für mich sind. Irgendwie ist es ja auch schön, wenn man dann genau machen kann, was man will am Schluss und dass man nicht mehr das Gefühl hat, dass man sich so viel von seiner Zukunft wegnimmt. Wenn ich jetzt jeden Tag Zucker esse, beeinflusse ich so eine lange Zukunft von mir. Und in deinem Alter ist es ja auch nicht gut, wenn du das machst und musst ja auch aufpassen auf dich…
Barbara: Aber genau das ist es! Also wenn ich manchmal hier sitze und trinke ein Glas Rotwein und dann denke „Das darfst du doch nicht, da wirst du abhängig!“ Dann sage ich mir: Und was soll’s? Oder wenn ich dicker werde, ich gehe ja nie mehr auf die Waage. Was soll’s? Also insofern: Das Altersfeeling hast du schon.


Wärst du gern so alt wie ich?

Barbara: Nein!
Mogli:
Ich auch nicht, auf gar keinen Fall.
Barbara:
Ohne Wenn und Aber: Nein! Mit drei Ausrufezeichen! Warum willst du wissen? Weil ich da noch so auf der Suche war. Einerseits war ich glücklich mit meinen kleinen Kindern, aber ich war auch irgendwo unglücklich, weil ich in hier im Ort war und keine Leute kannte und keinen Führerschein hatte. Und dann habe ich meinen Führerschein gemacht, dann gab es wieder ein bisschen Glück, weil ich Auto fahren konnte. Es war so ein Hin- und Her und das will ich nicht mehr.
Mogli: Und ich will nicht so alt wie du sein, weil ich noch so viel zu erleben habe.
Barbara: Klar, wenn man als 27-Jährige sagt, sie möchte gern 77 sein, dann stimmt was nicht im Leben. [lacht]


Was denkst du über die Frauen in meiner Generation?

Barbara: Dass sie Glück haben, in die Generationen hineingeboren zu sein, weil viel mehr möglich ist. Weil meine Generation euch viel erkämpft hat. Im Grunde genommen sind wir die ersten Frauen gewesen, die berufstätig waren. Ihr artikuliert euch, ihr kämpft für euch. Früher wurde das immer angegriffen von allen Seiten, wenn wir gekämpft haben. Aber ihr erfahrt auch viel Bestätigung dafür. Also ich hab auch einfach große Hoffnungen in eure Generation, dass ihr die Gesellschaft anders prägen könnt mit euren Kindern und vielleicht eine stärkeren Frauengesellschaft entstehen wird.
Mogli: Ich kann halt nicht von dir als Vertreterin deiner Generation sprechen, weil du mich so anders bist wie viele andere Frauen in deiner Generation. Ich habe auch ganz viele Frauen in deiner Generation gesehen, die nie gelernt haben, für sich einzustehen. Ich meine auch nicht, dass sie daran schuld sind, aber dass sie durch das Patriarchat einfach untergegangen sind. Mir tun manche Frauen aus deiner Generation auch leid, weil sie nicht so progressiv sein konnten. Oder keinen Partner hatten, wie du ihn hattest oder aus einer Familie wie der unseren stammen und sich somit vielleicht weniger entfalten konnten.
Barbara: Alle Leute, alle Jüngeren, sagen: Guckt euch die Barbara an, so möchte ich mal werden. Alle wollen sie so werden wie ich. Und das ist schon das beste Zeichen, dass es nicht Viele gibt, die so ihren Weg gegangen sind. Ich finde es zwar manchmal doof und lästig, denn ich bin nicht nur stark und toll, aber es ist natürlich auch schön ein Vorbild zu sein. Das scheint ‚was Besonderes zu sein in meiner Generation.


Was können die Jungen von den Alten lernen?

Mogli: Dass nicht immer alles ein Drama ist.
Barbara: Mein Wort wäre jetzt Gelassenheit. Mehr lassen. Einfach mehr Ruhe. Nicht der Zeit hinterher rennen, einfach voll gelassen sein.
Mogli: Ich erinnere mich noch an eine Geschichte als Teenagerin: Ich war total verliebt, aber die Story war hochdramatisch und mir ging es schlecht. Bei dir zu Besuch, hast du mich so angeguckt und gesagt: „Um Gottes Willen, zum Glück bin ich nicht mehr so alt wie du. Es ist anstrengend.“ Ja, irgendwann ist nicht mehr alles ein Drama. Mit der Zeit lerne ich echt, dass mich nicht sofort etwas umpusten kann. Wenn man noch nicht genau weiß, wer man ist, dann pustet es einen immer gleich so um.
Barbara: Du hast gedacht, dass dieser Herzschmerz nicht weggeht. Aber ich weiß ja selbst, wie die Gefühle sind, dieses Drama. Ich habe mich ja auch mal in andere Männer verliebt…
Mogli: Schön, dass das irgendwann vorbei ist. Ich habe dieses Jahr zum ersten Mal das Gefühl, dass ich in meinem Leben irgendwo angekommen bin. Natürlich passieren noch Sachen, die sich dramatisch anfühlen können. Aber ich glaube, ich bin jetzt mal so mit beiden Beinen im Leben und ein bisschen angekommen.
Barbara: Deswegen warst du auch bereit, körperlich ein Kind zu kriegen. Es ist sehr gut, dass es nicht schon vorher geklappt hat.


Was bedeutet Unabhängigkeit für dich?


Barbara: Frei sein. Allein sein. Dann kann ich jederzeit entscheiden, was ich machen möchte und wie ich es machen möchte. Komischerweise fühle ich auch eine Verantwortung bei diesem Freisein, also Verantwortung für Freunde, Familie und so weiter ist. Ich habe Freunde und dafür muss ich auch was tun, möchte ich auch was tun. Und diese Balance zu finden, das ist für mich Unabhängigkeit. Also nicht nur einfach für mich sorgen, sondern diese Balance im Auge zu haben.


Mogli: Ich glaube, echte Unabhängigkeit werde ich in meinem Leben nie haben und erfahren und leben, weil ich andere Menschen in meinem Leben brauche. Da hatte ich einen Moment in meiner Therapie einmal: Da wusste ich, dass ich die nächsten drei Wochen alleine sein würde und habe mich da hingesetzt und wollte vorbildlich erklären, dass ich in dieser Zeit unabhängig bin und mich um mich selbst kümmere, denn das müsse man ja auch mal lernen. Dann hat meine Therapeutin gesagt: „Du hast mir erzählt, wie du aufgewachsen bist und dass du viel Liebe erfahren hast und dass ihr viel gekuschelt habt. Und ich glaube einfach, dass du ein Mensch bist, der nicht dafür gemacht ist, allein zu sein.” Und ich glaube, dass das grundsätzlich eine der schlimmsten Mythen unserer Zeit ist, dass wir von selber verlangen, uns das zu geben, was uns andere geben können, weil es halt nicht geht. Du kannst dich nicht selber in Arm nehmen, du kannst nich mit dir schlafen. Sie meinte dann, dass es mir gut tun würde, wenn ich akzeptiere, dass ich andere Menschen brauche in meinem Leben. Nicht nur will, sondern sie auch brauche und das hat für mich einen riesen Unterschied gemacht. Also diese eine Erlaubnis. Und in dem Wissen darum, dass ich andere Menschen habe in meinem Leben und dass sie mein Sicherheitsnetz sind, das ich hier habe, kann ich mich ziemlich unabhängig fühle.
Barbara: Also dann ist das doch nur eine Definitionsfrage. Also das gilt für mich nämlich auch. Aber du bist unabhängig im Grunde genommen, weil du für dich herausgefunden hast, du brauchst diese Nähe zu jemandem. Und das kann ich für mich auch nur sagen. Ich brauch die Leute ungeheuer. Ich brauche euch als Familie ungeheuer. Aber es ist ein Gefühl, ich kann auch ohne. Ich weiß, dass ich euch hab und das ist gut. Ich muss mir meine Streicheleinheiten vom Therapeuten holen und Massage und so weiter. Aber geht ja alles. Aber ich würde meine Unabhängigkeit einschränken, wenn ich mir jetzt einen Mann hole, nur um jemanden um mich zu haben. Das machen viele alte Frauen und alte Männer schon sowieso. Aber ich auf gar keinen Fall.
Mogli: Für mich bedeutet immer Unabhängigkeit auch unabhängig von den gesellschaftlichen Ansprüchen an mich zu leben. Und das hab ich schon immer gemacht.
Barbara: Selbstbestimmt ist vielleicht das bessere Wort für uns als unabhängig.


Wen siehst du, wenn du in den Spiegel schaust?


Barbara: Eine ganz schön alt gewordene Frau. Die mir oft gefällt, aber nicht immer. Heute Morgen hab ich die ganzen Härchen vom Bart gesehen.
Mogli: Aber die habe ich auch [lacht]
Barbara: Meine sind so borstig geworden, da sind so ganz harte Dinger. Wenn ich in den Spiegel gucke, sehe mich halt so wie ich bin mit meinem Alter und allem. Und ich merke, dass ich besser in den Spiegel schauen kann jetzt als noch vor Jahren. Da habe ich immer nur rumgemäkelt. Hängebusen und dies und das. Und ich finde, das ist für 77 Jahre alles ganz normal.
Mogli: Also schaust du nicht mehr so oft in den Spiegel, nicht weil du dich nicht schön findest, sondern weil es dir nicht mehr so wichtig ist.


Barbara: Es ist mir nicht einfach nicht so wichtig und ich vergesse es manchmal. Da merke ich dann Stunden später, dass ich noch Zahnpasta um den Mund habe, weil ich dann doch wieder in den Spiegel geguckt habe.


Mogli: Ich hatte lustigerweise anderthalb Jahre keinen Spiegel zu Hause. Ich hatte irgendwie gar nicht das Bedürfnis danach. Früher hatte ich immer das Gefühl, ich habe mich viel zu oft angeschaut, ein Spiegel verführt dazu, dass man sich anguckt. Als ich nach Berlin gezogen bin, hatte so viel mit mir zu tun, mit meiner Innenwelt und danach mit meiner Depression – ich hatte so viel zu lernen, dass mein Aussehen einfach nicht so relevant war auf einmal. Irgendwann habe ich dann in den Spiegel geschaut und gemerkt, dass ich mich mit Liebe anschaue. Also ich gucke mich wirklich nett an, was wenige Menschen machen. Weil ich mag, wer da steht. Weil ich jetzt stolz bin auf die, die da steht. Und das heißt, wenn ich in der Zeit, in der ich krank war und in der ich mich noch so gesucht habe, hätte ich nicht nett in den Spiegel geschaut. Und jetzt bin ich stolz auf mich, wie ich als Mensch bin. Ich sehe jetzt eine mutige Frau.
Barbara: Ich kenn so viele Frauen, die sich in jedem Schaufenster spiegeln und überprüfen. Wie furchtbar.
Mogli: Das habe ich aber früher auch gemacht. Es hat irgendwie ein bisschen süchtig gemacht, sich selbst immer selber zu bewerten. Aber das mag ich nicht mehr.




Welche Werte sind in der Gesellschaft verloren gegangen?


Barbara: Das Genießen können und sich Zeit lassen. Das aufeinander achten. Und es ist auch viel Liebe abhandengekommen.
Mogli: Das kann ich gar nicht gut beantworten, weil ich es nicht weiß.

Barbara: Das ist alles zu schnell geworden für mich, also Corona hat dafür gesorgt, dass es gemäßigter ist. Mir reicht ein kleiner Supermarkt, ich brauche keinen drei Mal so großen Supermarkt. Ich brauche nicht 50000 verschiedene Milchsorten.

Mogli: Du meinst, dass alles überreizt ist?


Barbara: Es fehlt die Wertschätzung für Kleinigkeiten.


Mogli: Ja, würde ich auf jeden Fall auf Gesellschaft bezogen zustimmen.


Barbara: Die gegenseitige Wertschätzung und aber auch die von Kleinigkeiten. Sich freuen an Minimalem, einer schönen Kerze oder so was.


Mogli: Ist interessant, weil eine der ersten Intuitionen, die ich für mein Kind hatte, war, einfach nicht so viel zu haben. Es gibt Leute, die machen das Kinderzimmer schnell fertig und ich habe nur entschieden, ich brauch ein Bettchen und eine Wickelkommode in der Wohnung und viel mehr brauch ich gar nicht. Ich brauche kein ganzes Zimmer mit Hundert Spielzeugen, es reicht doch auch wenn man nur ein paar hat. Ich spüre das ganz klar, dass ich keinen Bock auf diesen Überfluss habe.


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Ein Beitrag geteilt von Mogli (she/her) (@mogliofficial)


Was bewunderst du an mir?


Barbara: Dein Selbstbewusstsein.
Mogli: Ich bewundere an dir, wie viel Liebe du im Leben hast, also wie viele liebe Menschen du auch um dich scharrst. Es ist schon verrückt, wie viele Menschen da sind, wenn man zu einem Geburtstag von dir kommt. Vor allem bewundere ich, wie du mit Trauer umgehst. Weil du sie zulässt und dadurch gehst und dir nicht verbietest, traurig zu sein. Auch wie du um Opa getrauert hast und immer noch tust. An ihn denkst und dabei immer Wege findest, damit umzugehen und dir alleine ein Leben geschaffen hast, was dich glücklich macht.
Barbara: Es darf beides sein: Glück und Trauer. Komisch, nicht?


Was bedeutet Liebe für dich?

Barbara: Jetzt wird’s aber heftig. [lacht] Alles.
Mogli: Eine schöne Antwort. Was bedeutet Liebe für mich? Du hast die einzig richtige Antwort genannt. Weil erstens bedeutet sie für mich selbst alles und zweitens ist sie ja auch alles, was zählt. Nur darum geht’s.


Diese OMAge stammt von Mogli aus Berlin. Die Musikerin, Schauspielerin und Aktivistin ist ein Familienmensch, genau wie ihre Oma Barbara. Diese ist dank Mogli übrigens jetzt Urgroßmutter.

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Şeniz Tiryaki über Omas Rolle im Kurzfilm „Diaspora”

Kurzfilm „Diaspora” – nicht ohne meine Oma

„Anneanne bedeutete für mich schon immer einfach nur Frieden”


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„Diaspora” ist ein Kurzfilm, bei dem es um das Leben und Aufwachsen zwischen zwei Kulturen geht. Der persönliche Struggle, der Alltagsrassismus – aber auch die Bereicherung, die man erfährt, wenn man multikulturell aufwächst. Meine Gedanken dazu habe ich in einem Gedicht formuliert und dieses schließlich mit Hilfe dieses Kurzfilms untermauert. Ein wichtiger und bedeutender Teil in dem Kurzfilm ist das Gespräch mit meiner Oma. Am Anfang des Filmes reden meine Oma und ich darüber, dass ich mich nirgendwo so fühle wie bei ihr. Dieser Teil des Filmes ist vor allem für mich sehr emotional und wichtig, da er meine Gefühle so echt widerspiegelt.

Meine Oma bedeutete für mich schon immer einfach nur Frieden. Sie war der Safe Space meiner Kindheit. Ich war in meiner Kindheit fast jeden Tag bei ihr. Als ich krank war, war ich bei ihr. Hatte ich Sorgen, war ich bei ihr. Zudem bewundere ich meine Oma unglaublich für alles, was sie geschafft hat. Sie ist allein als junge Frau nach Deutschland gezogen und hat seit dem ersten Tag an hart gearbeitet. Ohne jemals in der Schule gewesen zu sein, ohne ein Wort Deutsch sprechen zu können und nur mit einem Koffer hat sie ein ganzes Leben in ihrer Heimat zurückgelassen, damit wir es besser haben können. Sie schuftete auf Spargelfeldern, hatte mehrere Jobs an einem Tag und war einfach eine Macherin. Sie konnte aus ein paar D-Mark und Ehrgeiz so viel schaffen.

Und dazu ist sie auch noch eine coole Oma. 

Diese OMAge stammt von Şeniz Tiryaki aus Bremen. Der Kurzfilm ist im Rahmen des TLNT&TLNT Mentoring Programms gemeinsam mit Mentorin Bianca Raeddler entstanden.

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