Küsschen-Kekse-Kuschel-Oma und Nazibraut: Poetry-Slam-Europameisterin Theresa Sperling über Erinnerungskultur
„Die Last der Schuld meiner Großeltern ist ein Auftrag an mich, wachzurütteln.“
Theresa Sperling ist amtierende Poetry-Slam-Europameisterin. In ihrem Text „Häute“ legt sie mit lyrischer Wucht und politischer Dringlichkeit den Finger in ihre Familienwunde. Ein Beitrag zur Erinnerungskultur und zur Auseinandersetzung mit Schuld, Scham und Schweigen über die NS-Zeit.
Ich bin Berlinerin und habe den Mauerfall erlebt, meine Eltern sind schwer traumatisierte Kriegskinder, meine Großeltern haben während der Nazi-Zeit große Schuld auf sich geladen, und meine Söhne haben ihr eigenes geschichtliches Päckchen zu tragen. Ich glaube, dass wir durch unser tägliches Tun mitweben an einer Haut, die sich über alle Generationen zieht.
Häute
Ein gold gerahmtes Ölgemälde
in hellen Brauntönen gehalten,
trotz Lagerung im Kleiderschrank
noch heil und schön erhalten,
darauf zu sehen ist eine alte Dame,
ihr Lächeln eher verhalten,
ihr Dutt, der ist adrett gesteckt,
ihr Haar ist akkurat gescheitelt,
sie ist im Biedermeierohrensessel
langsam vor sich hingealtert,
mit Blick auf Porzellanfiguren,
vitrinenglasgeschützt gestaltet,
die braungefleckten Ader-Hände
bedacht ums Mutterkreuz gefaltet,
ruhn schwer im wohlgenährten Schoß
und vor der Scham der Alten.
Und eines Tages fragt die Enkelin,
jung und völlig unbedarft,
die Küsschen-Kekse-Kuschel-Oma
das, was man nicht fragen darf:
„Ihr wart doch Nazis, du und Opa,
wurdet ihr denn nicht bestraft?“
Ihr Kopf, der neigt sich, ihr Lächeln schwindet,
ihr Blick fällt auf den braunen Kittel.
Ein kurzes Zögern zeigt, sie überwindet sich:
„Es gibt Wege, weißt du, Frauen-Mittel:
Man macht sich schön, dann geht man hin
und dann …“ – am Ende schweigt sie.
Das lange Schweigen zwischen Zeilen
lässt die Enkelin begreifen.
Und aus Schuld und Scham und leisen Zweifeln
webt die alte Nazibraut
ihrer Enkelin die ersten Teile
einer zweiten weißen Haut,
die sie so einengt, dass sie aufreißt,
wenn die Menschheit feige schweigt,
weil aus Angst vor Konsequenzen
keiner sich zu schreien traut.
Und über das, was Oma/Opa taten,
wird bis heute noch geschwiegen,
aber einmal fragt sie ihren Vater:
„Kann man solche Eltern lieben?“
Sie hört kein empörtes Ja und kein verstörtes Nein,
sondern ein „Ich bin sehr wütend und werd es immer sein.“
Ihr Vater, heut schwarz-weiß-Aufnahme
im hippen Glascliprahmen,
spricht immer wieder gebetsmühlenartig
von den Kriegs- und Nachkriegsjahren,
vom Bombenfall in Bunkernächten,
vom Bombenfall an Bunkertagen,
vom Hall der Stockschläge auf Kinderhaut,
Brachial-Gewalt des Patriarchen,
von den Sonntagssuppenmaden
an den harten Hungertagen,
von viel zu vielen offenen Fragen,
vom Wut-Rausch in den 60er-Jahren,
von Kommunismus, Demos, Dutschke,
RAF und linken Attentaten.
Und aus Wut- und Kriegsgeschichten,
wird ihr die dritte Haut geschnitten,
die brennt aus tausend feinen Schnitten,
wenn Menschen weiter stumm zu Hause sitzen,
während Nazis auf den Straßen
Hitler wieder Grüße schicken.
Und dann kommt sie, ein ausgedrucktes Foto
auf der Pinnwand ihrer Lütten,
näht ihren Söhnen eine weitere Haut
aus eigenen Geschichten:
Sie erzählt von Landesgrenzen,
von Schilling, Gulden, Lira, Mark,
von Mauern und vom Mauerfall
und von dem Tag danach:
auf den Alleen zur Mauer weisend
ein kilometerweites Ticken,
weil Tausende von Menschen
schweigend Hämmer gegen Steine klicken,
damit die Mauer, die sie trennt,
endlich zerfällt zu kleinen Stücken.
Und sie erzählt von 9-11,
als Flugzeuge die Türme treffen,
die Türme auf dem Bildschirm brennen,
die Menschen schreien, fallen, rennen
und die Türme stürzen ein,
der Terror trägt ein neues Kleid,
die Angst bricht über uns herein.
So webt sie Gänsehaut für ihre Söhne
aus Trauerkränzen, Mauersteinen,
sodass ihnen eisigkalt wird,
sie laut aufstehen, sich vereinen,
Wenn kilometerlange Zäune Außengrenzen neu umreißen,
wenn Nazis wieder Macht verheißen,
wenn Flieger in Europa wieder ihre Bomben schmeißen
auf Tausende von Menschenleben,
wie dick muss die Haut sein, die wir unsern Kindern weben?
Dieser Raum ist voller Häute,
eine Klangschicht aus Geräuschen,
ein Stumm- und Schutzfilm aus Gerüchen,
lauter unsichtbare Schichten
unserer Ahnen und Geschichten.
Haut, die schützt und wärmt
und brennt und schmerzt,
die atmet, die wuchert, wächst und friert,
darauf mit Tausenden von feinen Stichen
all unsere Bilder tätowiert.
Ein Ölbild alter Schuld
in Opas Kleiderschrank,
ein Schwarz-Weiß-Foto des Hungers
im Glasrahmen an Mamas Wand,
ein Farbfoto des Mauerfalls
in deiner eigenen Hand,
Und du, mein Kind, in welchem Bild
wirst du wohl weiterleben?
Du wirst bestimmt als schickes Selfie
über deinen Kindern schweben,
ein Teil der virtuellen Cloud.
Aber welche Haut wirst du ihnen weben?
Welche Haut,
mein Kind,
welche Haut?
Foto: Annie Spratt
Einordnung zum Text:
„Häute“ ist ein Text der Erinnerungskultur, der während der Arbeit an der Dokumentation über die Menschenversuche meines Großvaters „Die Akte Georges Schaltenbrand ist noch nicht geschlossen“ entstanden ist. Die Aufarbeitung der Schuld meiner Großeltern war zeit meines Lebens ein omnipräsentes und belastendes Thema in meiner Familie. Meine Großeltern väterlicherseits waren bis zu ihrem Tod unbekehrbare Gesinnungsnazis. Das Gespräch, das ich im ersten Teil des Häute-Textes mit meiner Großmutter väterlicherseits führe, hat wirklich stattgefunden. Damals war ich etwa 13 Jahre alt und so geschockt, dass ich meinen Eltern erst mit dem Häute-Text selbst von diesem Gespräch erzählt habe. Lulu, meine Großmutter mütterlicherseits, war eine sehr wichtige Bezugsperson für mich. Sie hat mir stundenlang vorgelesen, mit mir schon als Kind Yoga praktiziert, erst als ich mich entschieden hatte, eine Tanzausbildung zu absolvieren, erzählte mir Oma Lulu, dass auch sie früher Tänzerin war. Lulu war eine mondäne, weit gereiste, belesene, kluge, wunderschöne Frau aus reichem Hause. Ich habe sie geliebt und bewundert. 1996 erfuhren meine Eltern über eine Fernsehdokumentation, dass mein Großvater (Lulus Ehemann) während des Nazi-Regimes im Rahmen seiner MS-Forschung Menschenversuche durchgeführt hat. Meine Großmutter war damals 99 Jahre alt. Als meine entsetzten Eltern sie zur Rede stellten, sagte sie: „Besser nicht dran rühren.“ Und nun? Kann ich die Frau noch lieben, die zwar meine Sprache, mein Körpergefühl, meine Liebe zu Büchern derart intensiv geprägt hat, aber die Menschenversuche ihres Ehemanns ihr Leben lang geheim gehalten hat? Ich glaube nicht. Die Liebe ist kaputt gegangen, die Prägung bleibt.
„Häute“ hat an Aktualität nicht verloren. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn ich ihn performe, spüre ich, wie sich die Atmosphäre in unserem Land verschärft hat. Im Laufe der Jahre sind immer wieder Verse hinzugekommen, die aktuelle Ereignisse aufnehmen. Die Last der Schuld meiner Großeltern ist ein Auftrag an mich, wachzurütteln.
Diese OMAge stammt von Theresa Sperling. Die ehemalige Tänzerin ist heute gefeierte Spoken Word Poetin, Jugendbuchautorin, Moderation, Speakerin und Texterin. In der Grafschaft Bentheim unterrichtet sie außerdem Deutsch, Englisch und Darstellendes Spiel.
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Und hier kannst du eine Live-Performance von „Häute“ sehen:
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