Tijan & Oma Marlies:
„Sie hat nie den Glauben an sich selbst verloren”
Meine Oma Marlies ist 80 Jahre alt. Sie kommt aus Ostpreußen, Rastenburg. Sie ist die jüngste von sechs Geschwistern. Ab dem 25. Januar 1945 war sie mit ihrer Familie sechs Wochen lang auf der Flucht, übers Haff bei -25 Grad Celsius. Sie war damals gerade fünf Jahre alt. Mit 21 Jahren begann sie das Medizinstudium und lernte dabei auch meinen Opa kennen. Die beiden führten gemeinsam eine Praxis für allgemeine Medizin, zogen drei Kinder auf und genießen jetzt ihr Rente mit viel Fahrradfahren und Reisen nach Usedom oder auch mal nach Namibia. Die beiden sind schon 55 Jahre verheiratet.
Ich bin stolz auf meine Oma, weil sie immer ihren Träumen gefolgt ist, nie den Glauben an sich selbst verloren hat und unglaublich witzig und liebevoll ist. Aber lest selbst, coronabedingt habe ich meine Oma für HeyNana am Telefon interviewt:
Oma, was sind deine Eigenschaften, auf die du wirklich stolz bist?
„Ehrlichkeit, Fleiß, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Bescheidenheit, also ich muss nicht andauernd etwas Neues haben und Verantwortung hab ich auch übernommen.“
Welche Eigenschaften, würdest du sagen, sind in der heutigen Zeit als junge Frau relevanter als zu der Zeit, als du eine heranwachsende Frau warst?
„Also da hab ich nicht viel. Sprachen sind wichtig heutzutage, dass eine junge Frau einen Beruf hat und Computerwissen.“
Welche Eigenschaft siehst du von dir in mir und was hast du von mir gelernt?
„Da kriegst Du ein großes Lob. Du bist fleißig, ehrlich, herzlich, gefühlvoll, respektvoll, sport- und tanzbegeistert. Du bist so gelassen, während ich so schnell in die Luft gehe. Das inspiriert mich an Dir.“ (lacht)
Was sind die prägenden Ereignisse im Leben gewesen, die dich zu der Frau gemacht haben, die du heute bist?
„Da fällt mir nur Flucht und Vertreibung ein, das hat mein ganzes Leben, meinen Werdegang beeinflusst. Ich war zielstrebig und bin einfach vorwärts gegangen ohne rechts und links zu gucken.“
Welchen Stellenwert haben junge Frauen heutzutage in unserer Gesellschaft deiner Meinung nach?
„Die sollten einen sehr hohen Stellenwert haben, weil sie meistens mehr leisten müssen als die Männer und trotzdem nicht die gleiche Anerkennung kriegen und das ist ganz schön hart. Frauen können nicht mehr auf Männer setzen, dass sie sie ein Leben lang versorgen. Der Opa hat gesagt, dass das eigentlich sein müsste, weil wenn man Kinder großzieht, kann man eigentlich nicht den gleichen Stellenwert erreichen wie ein Mann und dann hat man im Alter halb so viel Rente. Insofern schneiden Frauen schlechter ab.“
Welche Werte sind in der Gesellschaft verloren gegangen und welche Werte sind in der Gesellschaft dazu gekommen?
„Ich finde, heute werden nicht genug Bücher gelesen, dann gehen alle Essen und kochen nicht mehr. Keiner singt mehr, wir haben damals die ganzen Volkslieder gekonnt. Dazu gekommen sind die Telefonitis, Computersucht und Radikalität und nicht so viel Respekt gegenüber den Alten. Und heute wird zu viel und zu schnell Neues gekauft. Das hat sich verändert in der Gesellschaft. Wir haben früher die Sachen viel länger gebraucht.“
Welche Ratschläge möchtest du mir als junge Frau ans Herz legen?
„Lern einen Beruf, spare in der Zeit, so hast du in der Not. Iss mal wieder ein bisschen Fleisch das braucht der Köper für die Gesundheit. “ (lacht)
Würdest du noch einmal so jung sein wollen wie ich?
Das ist ein bisschen schwer zu beantworten. Der Opa hat heute gesagt, der Frühling riecht so gut. Ein bisschen Leben möchte ich schon. Aber ob ich nochmal so jung sein möchte wie du? Das glaub ich nicht, es wird alles unpersönlicher und schwieriger und der Klimawandel gefällt mir nicht.
Links mein Tascheninhalt, rechts Omas Tascheninhalt: Eigentlich gar kein so großer Unterschied, nur aus dem Adressbuch wurde ein Handy mit Kopfhörern.