Verena & Oma Lisa: „Mit diesem Wumms und dieser Bestimmtheit inspirierst du mich.“
Ganz selbstverständlich seinen Willen spüren und durchsetzen. Immer selbstverständlicher mutig für das eintreten, was mir wichtig ist- das habe ich von dir gelernt.

Als Älteste von drei Geschwistern warst du es gewohnt, gebraucht zu werden und zu handeln. Du hast alles mitgemacht, wie es kam: kurze Dorfschulzeit bei Lehrern, die den Stoff gerade in Religion bis ins Unkenntliche vereinfacht haben, ohne damit irgendwie eine Orientierung für die Kinder zu sein. Streiche – wie der Fussel damals am Rock des autoritären Lehrers und das Mädchen, das den Fussel immer wieder wegnahm und dransetzte, ohne dass er das merkte, darüber konntest du immer noch doll lachen – Nazis, Krieg, Bombennächte. Was wann wo gebrannt hat, wie gerochen hat. Wie ein Himmel in Phosphorbombennächten aussieht, wusstest du noch immer genau – das hatte sich auch in deine Seele gebrannt, genau wie der plötzliche Schrecken von Tieffliegern, wenn du mit der Tante über Land unterwegs warst und es keine Bäume zum Verstecken gab.
Tauschgeschäfte der Verwandten mit Städtern, das Grauen der Gefangenenkolonnen, Kriegsgefangene auf dem Hof, die euch etwas beibrachten in fremden Sprachen, Warten auf deine Kriegsheimkehrer. Und Landwirtschaft, sehr viel Landwirtschaft, obwohl es einen eigentlich anderswo hinzieht als jungen Menschen. Du bist nicht zum Schwimmen gefahren. Du hast die Schuhsammlung deiner Mutter nur bewundert, „deine Pflicht“ auf dem Feld, Hof und Familie erfüllt, als Verwandte im Krieg waren. Kühe und Schweine gefüttert und auf dem Feld gearbeitet. Du hast später alle deine Verwandten im Haus gepflegt. Und erst spät reflektiert, dass das nicht das ganze Leben sein soll und sein kann. Dann hast du doch jemanden getroffen, mit dem du dir vorstellen konntest, zusammen zu sein. Einen „Ostpreußen“, den es in dein Dorf verschlagen hatte, verkuppelt hat euch sein Bruder und du warst froh, vom Tanzen nicht mehr allein nach Hause zu gehen.
Zu mir hast du mal gesagt, irgendwann muss man dann mal sagen: „So bin ich nun mal“ – das war dein Motto, nicht aus Unflexibilität, sondern als erste Standortbestimmung für die Anderen und Ausgangspunkt. Dein Sternzeichen war passend der Skorpion.
Als dein Vater dich mal geärgert hat, besonders hübsch seist du ja nicht geraten, hast du gekontert, was du denn machen solltest, du wärst ja auch seine Tochter. Die Schönheit war dir schon wichtig, du sahst natürlicherweise gut aus und mochtest es, dich schick zu machen mit deinen Anziehsachen und Haaren, aber gingst ungeschminkt mit den Freundinnen los. Du mochtest Musik und Tanz und hättest da bestimmt mehr draus machen können. Du konntest auch gut singen, du und ich, die einzigen Kirchgängerinnen der Familie – aber ohne Eitelkeit und mehr ein Beitrag als ein Selbstzweck. Mir wurde später erzählt, in deinen 70ern, wenn auf einem Dorffest die Männer von der Rentnerband mal ein Bier trinken wollten, hättest du sie manchmal gefragt, ob du das Schlagzeug übernehmen dürftest – natürlich mit Erfolg.
Dein einziges Kind, deine Tochter Sabine, war dein ganzer Stolz. Lange hattest du geglaubt, du könntest gar kein Kind austragen. Dann war sie sowas wie ein Wunder für dich und deinen Mann. Mit deinem Schwiegersohn hattest du später so manche Auseinandersetzung. Und wenn er deiner Meinung nach verkehrt vorging, bekam er es mit dir zu tun. Dein Mann starb, als ich gerade geboren war. Du hast mich, deine erste Enkelin, behütet, als der Mutterschutz noch acht Wochen dauerte und mich gewickelt und umsorgt. Und warst froh um die neue Aufgabe. Später kamen noch die anderen drei Enkel.
Du hast für mich gekocht nach dem Kindergarten und der Schule, besonders erinnere ich mich an Kartoffelbrei, Würstchen, Erbsen und Möhren und Jägersauce. Diese braune Sauce aus dem Päckchen mit Pilzgeschmack. Die kam in die Löcher vom Kartoffelbrei.
Oder es gab Pfannkuchenrolle mit Marmelade gefüllt und Zucker drauf, wir nannten sie „Lisa-Linge“. Wir haben zusammen Stiefmütterchen gemalt, die Mitte gelb – deine Lieblingsfarbe. Ich war schon mit drei Jahren mit dir beim Seniorensport, zum Einkaufen, bei den Verwandten, wo ich versuchte, mich unter deinen weiten Röcken vor den „Tanten“ zu verstecken und auf dem Friedhof. Deswegen höre ich heute noch gern Celler Platt. Wir haben dein grünes Badezimmer mit alten Zahnbürsten geschrubbt. Später hast du im umgebauten Kuhstall gewohnt, als unsere Familie wuchs, aber mit einem fürstlich-weinroten Teppich.
Du warst meine geduldige Zuhörerin. Und du warst stolz, dass wir vier Enkel etwas (einen Beruf) lernen konnten und etwas weitergeben werden. Du hast uns nach Kräften unterstützt. Lehrperson, wie zunächst geplant, ist keine/r geworden, aber wer weiß: Lehrer/innen trifft man halt nicht nur in der Schule. Im Studium hast du mich sogar in der WG in Göttingen besucht. Zum Mittagsschläfchen hast du das Hochbett mittels Holzleiter in zwei Meter Höhe erklommen (ich hab geschoben) und zum Mittag haben wir uns Milchreis mit Kirschen aus dem Kühlregal vom Supermarkt geholt.
Neugierig und abenteuerlustig warst du auch. Wir haben zusammen am Familienstammbaum gebastelt. Meine älteste Nichte, deine erste Urenkelin, konntest du zu Hause winzig klein noch begrüßen und auf dem Arm halten.
Dein ganzes Leben an einem Ort, und zufrieden damit, das ist für mich unvorstellbar. Du bist geblieben – von Reisen und Kuren abgesehen. Du hast dich vor Ort eingebracht und dir deinen Mund nicht verbieten lassen. Mit diesem Wumms und dieser Bestimmtheit. Du fehlst sehr und trotzdem inspirierst du mich.