Henrike & Oma Inge:
„Sisterhood ist heute ein Buzzword, aber sie hat’s schon immer gelebt”
Meine Nana nenne ich schon immer Großmutti, in den letzten Jahren auch mal Oma. Eigentlich heißt sie ja Ingeborg Emma, kurz Inge, und im April 2020 ist sie 100 Jahre alt geworden. Corona hat der runden Geburtstagssause allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht, gratuliert wurde dieses Jahr also nur telefonisch. Inge war eigentlich ganz froh, denn„wenn dann der Bürgermeister und der Pfarrer und wer weiß noch wer kommt, dann gerate ich ja richtig in Stress“, sagte sie mir. Außerdem seien so die vielen Fläschchen Likör verschlossen geblieben. Darüber war sie insgeheim auch recht froh. „Wer denkt denn bei allem Verstand, dass ich mir mit 100 Jahren hier mehrere Flaschen Likör einverleibe?“
Geboren zu Beginn der Goldenen Zwanziger hat meine Großmutti in einem Jahrhundert allerhand erlebt. Und oft fragen sich ihre vier Enkelinnen, was da noch so alles in dem Kopf an Erinnerungen stecken muss…
Da ich mich beruflich viel mit Female Empowerment beschäftige und mich im Bereich PR auf starke Frauen und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit konzentriere, habe ich überlegt, wie ich unsere Oma und ihre Werte in meinem Kosmos verorte. Und die Antwort ist ganz klar: Ich sehe unsere Großmutti als Role Model, wie man heute so schön sagt.
Nach dem Abschluss der Schule hat sie eine Ausbildung zur Dentistin (heute Zahnärztin) begonnen und ist dafür jeden Tag von Lübeck nach Hamburg gefahren. Aber dann kam der Krieg dazwischen und sie musste ihren Berufswunsch leider aufgeben. Alles erst mal auf Null in Sachen Karriere – bis sie dann den Opa kennenlernte. Der war schon Artzt und kurzerhand organisierte Inge seine Praxis. Sie begleitete außerdem Hausbesuche und kümmerte sich stets um die Bücher. So stöhnt sie noch heute, wenn ich ihr sage, dass die Steuererklärung wieder ansteht – sie erinnert sich nämlich zu gut daran, wie sie immer mit dem Finanzamt zu schaffen hatte. Dass die Frau die Buchhaltung eigenverantwortlich regelt, war zu ihrer Zeit auch nicht gerade Standard. Ich bewundere sie sehr dafür, dass sie schon immer eine Macherin war, immer voll berufstätig.
Und noch was: Sisterhood ist heute oft nur ein Buzzword, aber Inge hat’s schon immer gelebt. Obwohl sie wahrscheinlich gar nicht weiß, dass es dieses Wort überhaupt gibt. Unsere Oma hatte zwei Schwestern, mit denen sie immer eng verbunden war, ihre jüngere Schwester ist nach San Francisco ausgewandert und selbst da hielt sie den Kontakt aufrecht – zu dieser Zeit auch nicht Standard, ohne Handys und Internet, ihr wisst schon. Und die Wichtigkeit des Schwesterbunds gab sie an ihre beiden Töchter weiter. Das Power-Duo ist ein Jahr auseinander, ist in eine Klasse gegangen, hat zusammen Abitur gemacht. Anschließend zog es die Beiden in eine WG nach Bonn zum Studieren. Bis heute sind sie sich die besten Freundinnen.
Vor allem um Rat fragen und Rat geben ist bei uns in der Familie sehr gefragt. Das ist auch auf meine Schwester Analena und mich übergegangen, unser Verhältnis ist genauso eng. Ja, es ist toll zu sehen, wie wir die Werte unserer Oma weiterleben und es bedeutet Inge auch sehr viel, dass sich die Sisters bei uns in der Familie so nahestehen.
Das bedeutet auch, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Beim letzten Besuch bei meiner Oma habe ich mit ihr Bücher aussortiert und über eine App verkauft. Ziemlich begeistert trug sich das wie ein Lauffeuer durch die Familie. Meine Tante rief mich an und wollte wissen, was ich denn da genau gemacht habe. Für den nächsten Besuch hat Oma schon angekündigt: „Ich habe schon wieder ganz viel aussortiert für dein Handy“.
Wir gehen davon aus, dass wir dann im nächsten Jahr den 101. Geburtstag feiern, da hier bestimmt noch ein neuer Familienrekord aufgestellt wird. Der liegt bis jetzt bei Tante Ida mit 103. Wenn meine Oma dann manchmal sagt „das geht nicht mehr lange gut“, hab ich seit Jahren eine fröhliche Antwort für mein Sisterhood-Role-Model: „Ach, das hast du mit 95 auch gesagt…“