Jadu & Oma Maria:
„Sie möchte fliegen, einmal in ihrem Leben. Also reisen wir nach Sardinien“
Vier Jahre ist es her, als meine Oma einen Schlaganfall erlitt. Zum Glück war es nur ein leichter und sie trug keinerlei bleibende Schäden davon. Jedoch war es ein Denkanstoß. Oma war zu diesem Zeitpunkt 81. Ein hohes Alter. Sie möchte fliegen, einmal in ihrem Leben. Diese Möglichkeit bot sich jedoch nie. Zum einen fehlte Zeit und Geld für eine Flugreise, zum anderen pflegte Oma jahrelang ihren bettlägerigen Mann. Ich möchte ihr also diesen Wunsch jetzt erfüllen, solange es noch geht, solange sie laufen kann und nicht wie andere in ihrem Alter, vielleicht den Rest ihres Lebens im Bett verbringen muss. Also fliege ich mit ihr nach Sardinien.
Für mich ist es ein oft erlebter Moment, wenn das Flugzeug abhebt. Für meine Oma ist es das allererste Mal. Ich bin tief berührt, während ich beobachte, wie aufgeregt sie ist, wie sie mit leuchtenden Augen die Wolken von oben betrachtet und sich wie ein kleines Mädchen freut. Diese Reise ist auch für mich die intensivste Zeit, die ich mit meiner Oma bisher verbracht habe. Wir schlafen in einem Zimmer, putzen uns zusammen die Zähne und planen gemeinsam, was wir erleben möchten. Mit dem Mietwagen geht es quer über die wunderschöne, hügelige Insel. Wir halten an, um einer Schildkröte über die Straße zu helfen. Oma staunt über dieses Tier und wir sind froh, dass wir sie in Sicherheit bringen konnten. Wir reden während der langen Fahrten über ihr Leben und über meines und tauschen uns aus.
Ich denke über die wütenden Frauen, die noch immer für Gleichberechtigung kämpfen und über Omas damalige Situation nach. „Sittsam, bescheiden und rein“, so sollten Mädchen und Frauen sich verhalten. Schwimmen lernen durften nur die Jungs. Oma kann es bis heute nicht. In der zweiten Klasse schlug ihr der Lehrer auf die Fingerknöchelchen, weil sie nicht singen wollte. 1945 war sie im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie mit Pferdekutschen auf der Flucht, übernachtete in Scheunen und hatte kaum zu essen. Mit 18 flüchtet sie aus Angst vor dem eigenen Vater durch einen Hohlgraben aus der DDR in den Westen: Sie ist unehelich schwanger geworden, was damals verpönt war. Doch auch das Jugendamt vor Ort drängt sie, den Vater des Kindes zu heiraten, was sie letztlich tut. Sie ist jedoch unglücklich in dieser Verbindung, weil ihr Mann ihr hart erarbeitetes Geld einkassiert und in Kneipen verprasst. Die Männer durften damals über ihre Frauen bestimmen, sie galten praktisch als Eigentum. Sie entschieden, ob ihre Frauen arbeiten durften und waren auch dazu berechtigt ihre Jobs zu kündigen. Sie zeigt nun also ihrem Mann die monatlichen Lohnstreifen ihrer Arbeitskollegin vor, die weniger verdient als sie und spart die Differenz heimlich in einem Regenschirm, um wieder zurück in die DDR nach Halberstadt zu ihren Eltern zu ziehen.
Mich stimmen die Geschichten aus Omas Leben sehr nachdenklich und traurig.
Oma freut sich für unsere, die hier in Deutschland aufgewachsene Generation, wie frei wir jetzt sind. Dass wir als Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen können, lieben dürfen wen wir wollen, lernen dürfen was wir möchten, uns kleiden dürfen, wie wir es mögen. Und dass wir bisher keinen Krieg hier erleben mussten. Sicherlich gibt es noch Ungerechtigkeiten, aber man sollte bei all der Wut, den Demonstrationen und den Kämpfen auch zwischendurch innehalten und genießen, Demut zeigen und zu schätzen wissen, was wir heutzutage alles haben, können und dürfen. Die Freiheit, die viele nicht erleben konnten und können.
Oma ist auf dieser Reise richtig aufgeblüht, man sieht ihr die neue Lebensenergie an. Sie strahlt und zehrt noch heute von den Erinnerungen an Sardinien. Im Flugzeug über den Wolken, bei einem Picknick auf dem Boot, begleitet von Delfinen. Am Strand unter Palmen, mit ihren Füßen im Meer, auch wenn sie nicht schwimmen kann.